Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt-
liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art:
so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in
der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung
der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse-
zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den
Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan-
denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat
daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des
Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt 3).

Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in
chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im
Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden
wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die
Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen
Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die
A. T.liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei-
chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die
Chronologie sei ohnehin anerkannt, dass die Synoptiker
sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, wesswe-
gen es, nach Sieffert 4), das Gewisse gegen das Unge-
wisse aufgeben hiesse, wenn man die johanneische Erzäh-
lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte.
Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar-
kus in seinem kai ouk ephien, ina tis dienegke skeuos dia tou
ierou (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus,
der sich überdiess einer Stütze in der jüdischen Sitte er-
freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch-
weg zu machen 5). Sezt man dennoch von diesem Zuge
voraus, dass er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre,
wie sie Markus auch sonst liebt 6): was berechtigt dann,

3) Lücke, 1, S. 435 ff.
4) a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f.
5) Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.
6) Lücke, S. 438.

Zweiter Abschnitt.
frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt-
liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art:
so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in
der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung
der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse-
zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den
Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan-
denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat
daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des
Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt 3).

Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in
chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im
Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden
wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die
Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen
Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die
A. T.liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei-
chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die
Chronologie sei ohnehin anerkannt, daſs die Synoptiker
sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, weſswe-
gen es, nach Sieffert 4), das Gewisse gegen das Unge-
wisse aufgeben hieſse, wenn man die johanneische Erzäh-
lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte.
Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar-
kus in seinem καὶ οὐκ ἤφιεν, ϊνα τις διενέγκῃ σκεῦος διὰ τοῦ
ἱεροῦ (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus,
der sich überdieſs einer Stütze in der jüdischen Sitte er-
freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch-
weg zu machen 5). Sezt man dennoch von diesem Zuge
voraus, daſs er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre,
wie sie Markus auch sonst liebt 6): was berechtigt dann,

3) Lücke, 1, S. 435 ff.
4) a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f.
5) Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.
6) Lücke, S. 438.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0728" n="704"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt-<lb/>
liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art:<lb/>
so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in<lb/>
der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung<lb/>
der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse-<lb/>
zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den<lb/>
Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan-<lb/>
denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat<lb/>
daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des<lb/>
Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt <note place="foot" n="3)"><hi rendition="#k">Lücke</hi>, 1, S. 435 ff.</note>.</p><lb/>
            <p>Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in<lb/>
chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im<lb/>
Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden<lb/>
wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die<lb/>
Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen<lb/>
Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die<lb/>
A. T.liche Stelle, sind nach <hi rendition="#k">Lücke</hi> ebensoviele Kennzei-<lb/>
chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die<lb/>
Chronologie sei ohnehin anerkannt, da&#x017F;s die Synoptiker<lb/>
sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, we&#x017F;swe-<lb/>
gen es, nach <hi rendition="#k">Sieffert</hi> <note place="foot" n="4)">a. a. O. S. 109; vgl. <hi rendition="#k">Schnechenburger</hi>, S. 26 f.</note>, das Gewisse gegen das Unge-<lb/>
wisse aufgeben hie&#x017F;se, wenn man die johanneische Erzäh-<lb/>
lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte.<lb/>
Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar-<lb/>
kus in seinem <foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03B1;&#x1F76; &#x03BF;&#x1F50;&#x03BA; &#x1F24;&#x03C6;&#x03B9;&#x03B5;&#x03BD;, &#x03CA;&#x03BD;&#x03B1; &#x03C4;&#x03B9;&#x03C2; &#x03B4;&#x03B9;&#x03B5;&#x03BD;&#x03AD;&#x03B3;&#x03BA;&#x1FC3; &#x03C3;&#x03BA;&#x03B5;&#x1FE6;&#x03BF;&#x03C2; &#x03B4;&#x03B9;&#x1F70; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6;<lb/>
&#x1F31;&#x03B5;&#x03C1;&#x03BF;&#x1FE6;</foreign> (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus,<lb/>
der sich überdie&#x017F;s einer Stütze in der jüdischen Sitte er-<lb/>
freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch-<lb/>
weg zu machen <note place="foot" n="5)"><hi rendition="#k">Lightfoot</hi>, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2.</note>. Sezt man dennoch von diesem Zuge<lb/>
voraus, da&#x017F;s er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre,<lb/>
wie sie Markus auch sonst liebt <note place="foot" n="6)"><hi rendition="#k">Lücke</hi>, S. 438.</note>: was berechtigt dann,<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[704/0728] Zweiter Abschnitt. frühere Zeit setzen zu müssen glaubte. Wissen so sämmt- liche Evangelisten nur je von Einem Vorfall dieser Art: so berechtigen uns weder die kleinen Abweichungen in der Beschreibung, noch die bedeutende in der Stellung der Begebenheit, zwei verschiedene Vorfälle vorauszuse- zen, da ja namentlich chronologische Differenzen in den Evangelien keineswegs selten, und bei traditionell entstan- denen Schriften auch ganz natürlich sind. Mit Recht hat daher nach älteren Vorgängen der neueste Ausleger des Johannes sich für die Identität beider Geschichten erklärt 3). Auf welcher Seite hiebei der Irrthum, namentlich in chronologischer Beziehung, liege, darüber kann man im Voraus wissen, wie sich die jetzige Kritik entscheiden wird, nämlich zu Gunsten des vierten Evangeliums. Die Peitsche, die abgestufte Behandlung der verschiedenen Klassen von Händlern, die freiere Anspielung auf die A. T.liche Stelle, sind nach Lücke ebensoviele Kennzei- chen des Augen- und Ohrenzeugen; in Bezug auf die Chronologie sei ohnehin anerkannt, daſs die Synoptiker sie gar nicht beobachten, sondern nur Johannes, weſswe- gen es, nach Sieffert 4), das Gewisse gegen das Unge- wisse aufgeben hieſse, wenn man die johanneische Erzäh- lung der synoptischen gegenüber fallen lassen wollte. Allein, was jene Anschaulichkeit betrifft, so hat auch Mar- kus in seinem καὶ οὐκ ἤφιεν, ϊνα τις διενέγκῃ σκεῦος διὰ τοῦ ἱεροῦ (V. 16.) einen solchen Zug vor den übrigen voraus, der sich überdieſs einer Stütze in der jüdischen Sitte er- freut, welche nicht erlaubte, den Tempelvorhof zum Durch- weg zu machen 5). Sezt man dennoch von diesem Zuge voraus, daſs er zu der willkührlichen Ausmalung gehöre, wie sie Markus auch sonst liebt 6): was berechtigt dann, 3) Lücke, 1, S. 435 ff. 4) a. a. O. S. 109; vgl. Schnechenburger, S. 26 f. 5) Lightfoot, S. 632, aus Bab. Jevamoth, f. 6, 2. 6) Lücke, S. 438.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/728
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 704. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/728>, abgerufen am 18.05.2024.