gleichen Reden verstanden haben (2, 22. 7, 39), weil näm- lich der Gegensaz des Dunkels, in welchem damals die Jünger noch tappten, mit dem nachmals ihnen aufgegan- genen Lichte mit zu den Contrasten gehörte, welche die- ses Evangelium durchweg so eifrig verfolgt. Ein Anderes, was Bertholdt für seine Voraussetzung anführt, und wor- in ihm auch Tholuck beistimmt, ist, dass sich in den jo- hanneischen Reden bisweilen Sätze finden, die weder an sich bedeutend, noch mit dem übrigen Vortrag im Zusam- menhang, nur äusserlich durch die Situation veranlasst gewesen sein können, deren Aufbewahrung mithin nur durch die Annahme der frischesten und unmittelbarsten Aufzeichnung sich erklären lasse, wofür sich jene Kriti- ker namentlich auf das egeiresthe agomen enteuthen (14, 31) berufen. Allein die Entstehung solcher unzusammenhän- genden Zwischensätze ist oben von uns auf eine Weise erklärt worden, welche die Hypothese von augenblickli- cher Aufzeichnung überflüssig macht.
Musste man daher auf andre Mittel denken, um sich der Treue der im vierten Evangelium mitgetheilten Reden Jesu zu versichern, und bleibt die oft vorgebrachte all- gemeine Berufung darauf, was ein gutes Gedächtniss, namentlich unter einfach lebenden, der Schrift ungewohn- ten Menschen leisten könne, im Gebiete der abstrakten Möglichkeit stehen, auf welchem, wie auch Lücke be- merkt 9), sich immer fast gleichviel für und wider spre- chen lässt: so hatte man sich näher an das dem Johan- nes Eigenthümliche zu halten, und berief sich in dieser Hinsicht auf sein ganz besonders enges Verhältniss zu Jesu als Lieblingsjüngers, auf seine Begeisterung für den- selben, welche gewiss auch sein Gedächtniss habe stärken und Alles, was aus dem Munde des göttlichen Freundes gekommen war, ihm im lebhaftesten Andenken erhalten
9) a. a. O. S. 199.
Zweiter Abschnitt.
gleichen Reden verstanden haben (2, 22. 7, 39), weil näm- lich der Gegensaz des Dunkels, in welchem damals die Jünger noch tappten, mit dem nachmals ihnen aufgegan- genen Lichte mit zu den Contrasten gehörte, welche die- ses Evangelium durchweg so eifrig verfolgt. Ein Anderes, was Bertholdt für seine Voraussetzung anführt, und wor- in ihm auch Tholuck beistimmt, ist, daſs sich in den jo- hanneischen Reden bisweilen Sätze finden, die weder an sich bedeutend, noch mit dem übrigen Vortrag im Zusam- menhang, nur äusserlich durch die Situation veranlaſst gewesen sein können, deren Aufbewahrung mithin nur durch die Annahme der frischesten und unmittelbarsten Aufzeichnung sich erklären lasse, wofür sich jene Kriti- ker namentlich auf das ἐγείρεσϑε ἄγωμεν ἐντεῦϑεν (14, 31) berufen. Allein die Entstehung solcher unzusammenhän- genden Zwischensätze ist oben von uns auf eine Weise erklärt worden, welche die Hypothese von augenblickli- cher Aufzeichnung überflüssig macht.
Muſste man daher auf andre Mittel denken, um sich der Treue der im vierten Evangelium mitgetheilten Reden Jesu zu versichern, und bleibt die oft vorgebrachte all- gemeine Berufung darauf, was ein gutes Gedächtniſs, namentlich unter einfach lebenden, der Schrift ungewohn- ten Menschen leisten könne, im Gebiete der abstrakten Möglichkeit stehen, auf welchem, wie auch Lücke be- merkt 9), sich immer fast gleichviel für und wider spre- chen läſst: so hatte man sich näher an das dem Johan- nes Eigenthümliche zu halten, und berief sich in dieser Hinsicht auf sein ganz besonders enges Verhältniſs zu Jesu als Lieblingsjüngers, auf seine Begeisterung für den- selben, welche gewiſs auch sein Gedächtniſs habe stärken und Alles, was aus dem Munde des göttlichen Freundes gekommen war, ihm im lebhaftesten Andenken erhalten
9) a. a. O. S. 199.
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Zweiter Abschnitt.
gleichen Reden verstanden haben (2, 22. 7, 39), weil näm-
lich der Gegensaz des Dunkels, in welchem damals die
Jünger noch tappten, mit dem nachmals ihnen aufgegan-
genen Lichte mit zu den Contrasten gehörte, welche die-
ses Evangelium durchweg so eifrig verfolgt. Ein Anderes,
was Bertholdt für seine Voraussetzung anführt, und wor-
in ihm auch Tholuck beistimmt, ist, daſs sich in den jo-
hanneischen Reden bisweilen Sätze finden, die weder an
sich bedeutend, noch mit dem übrigen Vortrag im Zusam-
menhang, nur äusserlich durch die Situation veranlaſst
gewesen sein können, deren Aufbewahrung mithin nur
durch die Annahme der frischesten und unmittelbarsten
Aufzeichnung sich erklären lasse, wofür sich jene Kriti-
ker namentlich auf das ἐγείρεσϑε ἄγωμεν ἐντεῦϑεν (14, 31)
berufen. Allein die Entstehung solcher unzusammenhän-
genden Zwischensätze ist oben von uns auf eine Weise
erklärt worden, welche die Hypothese von augenblickli-
cher Aufzeichnung überflüssig macht.
Muſste man daher auf andre Mittel denken, um sich
der Treue der im vierten Evangelium mitgetheilten Reden
Jesu zu versichern, und bleibt die oft vorgebrachte all-
gemeine Berufung darauf, was ein gutes Gedächtniſs,
namentlich unter einfach lebenden, der Schrift ungewohn-
ten Menschen leisten könne, im Gebiete der abstrakten
Möglichkeit stehen, auf welchem, wie auch Lücke be-
merkt 9), sich immer fast gleichviel für und wider spre-
chen läſst: so hatte man sich näher an das dem Johan-
nes Eigenthümliche zu halten, und berief sich in dieser
Hinsicht auf sein ganz besonders enges Verhältniſs zu
Jesu als Lieblingsjüngers, auf seine Begeisterung für den-
selben, welche gewiſs auch sein Gedächtniſs habe stärken
und Alles, was aus dem Munde des göttlichen Freundes
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9) a. a. O. S. 199.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/692>, abgerufen am 22.11.2024.
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