Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Siebentes Kapitel. §. 79.
doppelte Frage: entsprechen jene Reden, so wie sie vor
uns liegen, den Gesetzen 1) der Wahrscheinlichkeit, und
2) der Behaltbarkeit? In ersterer Hinsicht wird von den
Freunden des vierten Evangeliums bemerkt, seine Reden
zeichnen sich durch ein besonderes Gepräge der Wahrheit
und Zuverlässigkeit aus, die Gespräche, die es Jesum mit
Menschen der verschiedensten Gattungen führen lasse,
seien durchaus treue Charakterschilderungen, welche den
strengsten Anforderungen der psychologischen Kritik Ge-
nüge thun 1). Dem ist von der andern Seite entgegenge-
sezt worden, wie es vielmehr höchst unwahrscheinlich
sei, dass einerseits Jesus zu Personen von den verschie-
densten Bildungsstufen so ganz auf dieselbe Weise, zu
den Galiläern in der Synogoge zu Kapernaum nicht ver-
ständlicher, als zu dem didaskalos tou Israel in Jerusa-
lem gesprochen, dass den Inhalt seiner Reden fast durch-
weg nur die Eine Lehre von seiner Person und deren Er-
habenheit gebildet haben, die Form derselben aber wie
absichtlich darauf berechnet gewesen sein sollte, die Leute
irre zu machen und von ihm zurückzustossen. Ebenso
andrerseits bei den Zuhörern und Mitunterrednern hat
man die Angemessenheit ihrer Zwischenreden nicht selten
vermisst. Hier ist, wie wir gesehen haben, kein Unter-
schied zwischen einem samarischen Weibe und dem ge-
bildetsten Pharisäer: dieser so gut wie jene muss die gei-
stig gemeinten Reden Jesu fleischlich missverstehen, und
diese Missverständnisse sind nicht selten so grell, dass
sie allen Glauben übersteigen, jedenfalls aber so einförmig,
dass sie einer stehenden Manier ähnlich sehen, in welcher
der Verfasser des vierten Evangeliums willkührlich des
Contrastes wegen die mit Jesu sich Unterhaltenden gezeich-
net zu haben scheint 2). Und hienach weiss ich wirklich

1) Wegscheider, Einleit. in das Evang. Joh. S. 271. Tholuck,
Comm. S. 20.
2) So Eckermann, theol. Beiträge, 5, 2, S. 228; (Vogel) der

Siebentes Kapitel. §. 79.
doppelte Frage: entsprechen jene Reden, so wie sie vor
uns liegen, den Gesetzen 1) der Wahrscheinlichkeit, und
2) der Behaltbarkeit? In ersterer Hinsicht wird von den
Freunden des vierten Evangeliums bemerkt, seine Reden
zeichnen sich durch ein besonderes Gepräge der Wahrheit
und Zuverläſsigkeit aus, die Gespräche, die es Jesum mit
Menschen der verschiedensten Gattungen führen lasse,
seien durchaus treue Charakterschilderungen, welche den
strengsten Anforderungen der psychologischen Kritik Ge-
nüge thun 1). Dem ist von der andern Seite entgegenge-
sezt worden, wie es vielmehr höchst unwahrscheinlich
sei, daſs einerseits Jesus zu Personen von den verschie-
densten Bildungsstufen so ganz auf dieselbe Weise, zu
den Galiläern in der Synogoge zu Kapernaum nicht ver-
ständlicher, als zu dem διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ in Jerusa-
lem gesprochen, daſs den Inhalt seiner Reden fast durch-
weg nur die Eine Lehre von seiner Person und deren Er-
habenheit gebildet haben, die Form derselben aber wie
absichtlich darauf berechnet gewesen sein sollte, die Leute
irre zu machen und von ihm zurückzustoſsen. Ebenso
andrerseits bei den Zuhörern und Mitunterrednern hat
man die Angemessenheit ihrer Zwischenreden nicht selten
vermiſst. Hier ist, wie wir gesehen haben, kein Unter-
schied zwischen einem samarischen Weibe und dem ge-
bildetsten Pharisäer: dieser so gut wie jene muſs die gei-
stig gemeinten Reden Jesu fleischlich miſsverstehen, und
diese Miſsverständnisse sind nicht selten so grell, daſs
sie allen Glauben übersteigen, jedenfalls aber so einförmig,
daſs sie einer stehenden Manier ähnlich sehen, in welcher
der Verfasser des vierten Evangeliums willkührlich des
Contrastes wegen die mit Jesu sich Unterhaltenden gezeich-
net zu haben scheint 2). Und hienach weiſs ich wirklich

1) Wegscheider, Einleit. in das Evang. Joh. S. 271. Tholuck,
Comm. S. 20.
2) So Eckermann, theol. Beiträge, 5, 2, S. 228; (Vogel) der
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0689" n="665"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Siebentes Kapitel</hi>. §. 79.</fw><lb/>
doppelte Frage: entsprechen jene Reden, so wie sie vor<lb/>
uns liegen, den Gesetzen 1) der Wahrscheinlichkeit, und<lb/>
2) der Behaltbarkeit? In ersterer Hinsicht wird von den<lb/>
Freunden des vierten Evangeliums bemerkt, seine Reden<lb/>
zeichnen sich durch ein besonderes Gepräge der Wahrheit<lb/>
und Zuverlä&#x017F;sigkeit aus, die Gespräche, die es Jesum mit<lb/>
Menschen der verschiedensten Gattungen führen lasse,<lb/>
seien durchaus treue Charakterschilderungen, welche den<lb/>
strengsten Anforderungen der psychologischen Kritik Ge-<lb/>
nüge thun <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#k">Wegscheider</hi>, Einleit. in das Evang. Joh. S. 271. <hi rendition="#k">Tholuck</hi>,<lb/>
Comm. S. 20.</note>. Dem ist von der andern Seite entgegenge-<lb/>
sezt worden, wie es vielmehr höchst unwahrscheinlich<lb/>
sei, da&#x017F;s einerseits Jesus zu Personen von den verschie-<lb/>
densten Bildungsstufen so ganz auf dieselbe Weise, zu<lb/>
den Galiläern in der Synogoge zu Kapernaum nicht ver-<lb/>
ständlicher, als zu dem <foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03B9;&#x03B4;&#x03AC;&#x03C3;&#x03BA;&#x03B1;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C2; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x1F38;&#x03C3;&#x03C1;&#x03B1;&#x1F74;&#x03BB;</foreign> in Jerusa-<lb/>
lem gesprochen, da&#x017F;s den Inhalt seiner Reden fast durch-<lb/>
weg nur die Eine Lehre von seiner Person und deren Er-<lb/>
habenheit gebildet haben, die Form derselben aber wie<lb/>
absichtlich darauf berechnet gewesen sein sollte, die Leute<lb/>
irre zu machen und von ihm zurückzusto&#x017F;sen. Ebenso<lb/>
andrerseits bei den Zuhörern und Mitunterrednern hat<lb/>
man die Angemessenheit ihrer Zwischenreden nicht selten<lb/>
vermi&#x017F;st. Hier ist, wie wir gesehen haben, kein Unter-<lb/>
schied zwischen einem samarischen Weibe und dem ge-<lb/>
bildetsten Pharisäer: dieser so gut wie jene mu&#x017F;s die gei-<lb/>
stig gemeinten Reden Jesu fleischlich mi&#x017F;sverstehen, und<lb/>
diese Mi&#x017F;sverständnisse sind nicht selten so grell, da&#x017F;s<lb/>
sie allen Glauben übersteigen, jedenfalls aber so einförmig,<lb/>
da&#x017F;s sie einer stehenden Manier ähnlich sehen, in welcher<lb/>
der Verfasser des vierten Evangeliums willkührlich des<lb/>
Contrastes wegen die mit Jesu sich Unterhaltenden gezeich-<lb/>
net zu haben scheint <note xml:id="seg2pn_21_1" next="#seg2pn_21_2" place="foot" n="2)">So <hi rendition="#k">Eckermann</hi>, theol. Beiträge, 5, 2, S. 228; (<hi rendition="#k">Vogel</hi>) der</note>. Und hienach wei&#x017F;s ich wirklich<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[665/0689] Siebentes Kapitel. §. 79. doppelte Frage: entsprechen jene Reden, so wie sie vor uns liegen, den Gesetzen 1) der Wahrscheinlichkeit, und 2) der Behaltbarkeit? In ersterer Hinsicht wird von den Freunden des vierten Evangeliums bemerkt, seine Reden zeichnen sich durch ein besonderes Gepräge der Wahrheit und Zuverläſsigkeit aus, die Gespräche, die es Jesum mit Menschen der verschiedensten Gattungen führen lasse, seien durchaus treue Charakterschilderungen, welche den strengsten Anforderungen der psychologischen Kritik Ge- nüge thun 1). Dem ist von der andern Seite entgegenge- sezt worden, wie es vielmehr höchst unwahrscheinlich sei, daſs einerseits Jesus zu Personen von den verschie- densten Bildungsstufen so ganz auf dieselbe Weise, zu den Galiläern in der Synogoge zu Kapernaum nicht ver- ständlicher, als zu dem διδάσκαλος τοῦ Ἰσραὴλ in Jerusa- lem gesprochen, daſs den Inhalt seiner Reden fast durch- weg nur die Eine Lehre von seiner Person und deren Er- habenheit gebildet haben, die Form derselben aber wie absichtlich darauf berechnet gewesen sein sollte, die Leute irre zu machen und von ihm zurückzustoſsen. Ebenso andrerseits bei den Zuhörern und Mitunterrednern hat man die Angemessenheit ihrer Zwischenreden nicht selten vermiſst. Hier ist, wie wir gesehen haben, kein Unter- schied zwischen einem samarischen Weibe und dem ge- bildetsten Pharisäer: dieser so gut wie jene muſs die gei- stig gemeinten Reden Jesu fleischlich miſsverstehen, und diese Miſsverständnisse sind nicht selten so grell, daſs sie allen Glauben übersteigen, jedenfalls aber so einförmig, daſs sie einer stehenden Manier ähnlich sehen, in welcher der Verfasser des vierten Evangeliums willkührlich des Contrastes wegen die mit Jesu sich Unterhaltenden gezeich- net zu haben scheint 2). Und hienach weiſs ich wirklich 1) Wegscheider, Einleit. in das Evang. Joh. S. 271. Tholuck, Comm. S. 20. 2) So Eckermann, theol. Beiträge, 5, 2, S. 228; (Vogel) der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/689
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 665. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/689>, abgerufen am 18.05.2024.