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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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che Mittheilung machte? Auch Lücke 15) macht sich den
Einwurf, warum Jesus, wenn doch Nikodemus das Leich-
tere nicht verstand, ihn mit dem Schwereren gequält
habe, und warum gerade mit dem Geheimniss vom Tode
des Messias, der damals noch so ferne lag? Er antwor-
tet, es sei der Lehrweisheit Jesu vollkommen angemessen
gewesen, das ihm von Gott verordnete Leiden so bald als
möglich zu offenbaren, weil nichts geeigneter gewesen
sei, falsche sinnliche Hoffnungen niederzuschlagen. Allein
je ferner ihrer sinnlichen Erwartungen wegen seinen Zeit-
genossen der Gedanke an den Tod des Messias lag, desto
deutlicher und unumwundener musste Jesus, wenn er ihn
verbreiten wollte, diesen Gedanken aussprechen, und nicht
in einem räthselhaften Bilde, von welchem er nicht sicher
war, ob es Nikodemus nur verstehen würde. Aber Ni-
kodemus, sagt Lücke, war ein empfänglicher Mann, dem
wohl etwas mehr zugemuthet werden durfte. Allein ge-
rade in diesem Gespräch hatte er sich durch das Nichtver-
stehen der epigeia als noch weniger für die epourania em-
pfänglich bewiesen, und Jesus selbst verzweifelte nach
V. 12. daran, dass er diese verstehen werde. Aber eben
dadurch, bemerkt nun Lücke leztlich, dass er zu dem nicht
verstandenen Leichteren das noch weniger verständliche
Schwerere fügte, habe Jesus auch sonst die Geister spor-
nen wollen, um durch Spannung ihrer Aufmerksamkeit
ihr Nachdenken um so mehr in Anspruch zu nehmen.
Indess die Beispiele eines solchen Verfahrens Jesu, wel-
che Lücke beibringt, sind sämmtlich aus dem vierten Evan-
gelium selbst, von welchem es sich eben fragt, ob es das
Lehrverfahren Jesu in diesem Stücke richtig wiedergebe,
beweisen also im Cirkel. Ein ähnliches Verfahren Jesu
haben wir in der Erzählung von seinem Gespräch mit der
Samariterin gehabt, aber schon dort erklären müssen, dass

15) a. a. O. S. 476.
Das Leben Jesu I. Band. 41

Siebentes Kapitel. §. 76.
che Mittheilung machte? Auch Lücke 15) macht sich den
Einwurf, warum Jesus, wenn doch Nikodemus das Leich-
tere nicht verstand, ihn mit dem Schwereren gequält
habe, und warum gerade mit dem Geheimniſs vom Tode
des Messias, der damals noch so ferne lag? Er antwor-
tet, es sei der Lehrweisheit Jesu vollkommen angemessen
gewesen, das ihm von Gott verordnete Leiden so bald als
möglich zu offenbaren, weil nichts geeigneter gewesen
sei, falsche sinnliche Hoffnungen niederzuschlagen. Allein
je ferner ihrer sinnlichen Erwartungen wegen seinen Zeit-
genossen der Gedanke an den Tod des Messias lag, desto
deutlicher und unumwundener muſste Jesus, wenn er ihn
verbreiten wollte, diesen Gedanken aussprechen, und nicht
in einem räthselhaften Bilde, von welchem er nicht sicher
war, ob es Nikodemus nur verstehen würde. Aber Ni-
kodemus, sagt Lücke, war ein empfänglicher Mann, dem
wohl etwas mehr zugemuthet werden durfte. Allein ge-
rade in diesem Gespräch hatte er sich durch das Nichtver-
stehen der ἐπίγεια als noch weniger für die ἐπουράνια em-
pfänglich bewiesen, und Jesus selbst verzweifelte nach
V. 12. daran, daſs er diese verstehen werde. Aber eben
dadurch, bemerkt nun Lücke leztlich, daſs er zu dem nicht
verstandenen Leichteren das noch weniger verständliche
Schwerere fügte, habe Jesus auch sonst die Geister spor-
nen wollen, um durch Spannung ihrer Aufmerksamkeit
ihr Nachdenken um so mehr in Anspruch zu nehmen.
Indeſs die Beispiele eines solchen Verfahrens Jesu, wel-
che Lücke beibringt, sind sämmtlich aus dem vierten Evan-
gelium selbst, von welchem es sich eben fragt, ob es das
Lehrverfahren Jesu in diesem Stücke richtig wiedergebe,
beweisen also im Cirkel. Ein ähnliches Verfahren Jesu
haben wir in der Erzählung von seinem Gespräch mit der
Samariterin gehabt, aber schon dort erklären müssen, daſs

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Das Leben Jesu I. Band. 41
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[641/0665] Siebentes Kapitel. §. 76. che Mittheilung machte? Auch Lücke 15) macht sich den Einwurf, warum Jesus, wenn doch Nikodemus das Leich- tere nicht verstand, ihn mit dem Schwereren gequält habe, und warum gerade mit dem Geheimniſs vom Tode des Messias, der damals noch so ferne lag? Er antwor- tet, es sei der Lehrweisheit Jesu vollkommen angemessen gewesen, das ihm von Gott verordnete Leiden so bald als möglich zu offenbaren, weil nichts geeigneter gewesen sei, falsche sinnliche Hoffnungen niederzuschlagen. Allein je ferner ihrer sinnlichen Erwartungen wegen seinen Zeit- genossen der Gedanke an den Tod des Messias lag, desto deutlicher und unumwundener muſste Jesus, wenn er ihn verbreiten wollte, diesen Gedanken aussprechen, und nicht in einem räthselhaften Bilde, von welchem er nicht sicher war, ob es Nikodemus nur verstehen würde. Aber Ni- kodemus, sagt Lücke, war ein empfänglicher Mann, dem wohl etwas mehr zugemuthet werden durfte. Allein ge- rade in diesem Gespräch hatte er sich durch das Nichtver- stehen der ἐπίγεια als noch weniger für die ἐπουράνια em- pfänglich bewiesen, und Jesus selbst verzweifelte nach V. 12. daran, daſs er diese verstehen werde. Aber eben dadurch, bemerkt nun Lücke leztlich, daſs er zu dem nicht verstandenen Leichteren das noch weniger verständliche Schwerere fügte, habe Jesus auch sonst die Geister spor- nen wollen, um durch Spannung ihrer Aufmerksamkeit ihr Nachdenken um so mehr in Anspruch zu nehmen. Indeſs die Beispiele eines solchen Verfahrens Jesu, wel- che Lücke beibringt, sind sämmtlich aus dem vierten Evan- gelium selbst, von welchem es sich eben fragt, ob es das Lehrverfahren Jesu in diesem Stücke richtig wiedergebe, beweisen also im Cirkel. Ein ähnliches Verfahren Jesu haben wir in der Erzählung von seinem Gespräch mit der Samariterin gehabt, aber schon dort erklären müssen, daſs 15) a. a. O. S. 476. Das Leben Jesu I. Band. 41

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 641. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/665>, abgerufen am 24.05.2024.