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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Sechstes Kapitel. §. 74.
heisst, und ihm ein basileuein zugeschrieben ist, der Zweck
seiner Reise aber, den Matthäus nicht angiebt, dahin be-
stimmt wird, er sei gezogen eis khoran makran, labein eauto
basileian. Die Unterthanen dieses Herrn nun, heisst es
weiter, haben ihn gehasst, und nach seiner Abreise ihm
den Gehorsam anfkündigen lassen. Daher werden nach
der Rückkehr des Herrn neben dem faulen Knecht auch
noch die rebellischen Bürger, und zwar durch Niederme-
zelung, bestraft, und die treuen Diener nicht bloss unbe-
stimmt durch Eingehen in die khara ihres Herrn, sondern
königlich durch die Schenkung einer Anzahl von Städten
belohnt. Weniger wesentlich sind die Differenzen, dass
die Zahl der Knechte bei Matthäus unbestimmt, bei Lukas
auf zehn festgesezt ist; dass sie nach Matthäus Talente,
nach Lukas Minen, bei jenem ungleiche Summen (ekaso
kata ten idian dunamin) bei Lukas gleiche bekommen, und
sofort nach jenem aus ungleichem Kapital durch gleichen
Kraftaufwand Ungleiches gewinnen, und daher gleich be-
lohnt werden, nach diesem dagegen schaffen sie mit glei-
chem Kapital durch ungleiche Kraftanstrengung Ungleiches,
und werden daher auch ungleich belohnt.

Sollte diese Parabel zu zwei verschiedenen Malen in
veränderter Gestalt aus dem Munde Jesu gekommen sein,
so müsste er sie, wenn Matthäus und Lukas sie richtig
stellen, zuerst in der zusammengesezteren Form, wie sie
Lukas, dann erst in der einfacheren, wie Matthäus sie giebt,
vorgetragen haben 28), da jener sie vor, dieser nach dem
Einzug in Jerusalem sezt. Allein diess wäre gegen alle
Analogie. Die erste Ausführung eines Gedankens ist ihrer
Natur nach die einfachere: bei der zweiten können neue
Beziehungen hinzukommen, die Sache von mehreren Sei-
ten betrachtet und in manchfaltigere Verbindungen gesezt
werden. So müsste jedenfalls mit Schleiermacher angenom-

28) so Kuinöl, Comm. in Luc. p. 635.

Sechstes Kapitel. §. 74.
heiſst, und ihm ein βασιλεύειν zugeschrieben ist, der Zweck
seiner Reise aber, den Matthäus nicht angiebt, dahin be-
stimmt wird, er sei gezogen εἰς χώραν μακρὰν, λαβεῖν ἑαυτῷ
βασιλείαν. Die Unterthanen dieses Herrn nun, heiſst es
weiter, haben ihn gehaſst, und nach seiner Abreise ihm
den Gehorsam anfkündigen lassen. Daher werden nach
der Rückkehr des Herrn neben dem faulen Knecht auch
noch die rebellischen Bürger, und zwar durch Niederme-
zelung, bestraft, und die treuen Diener nicht bloſs unbe-
stimmt durch Eingehen in die χαρὰ ihres Herrn, sondern
königlich durch die Schenkung einer Anzahl von Städten
belohnt. Weniger wesentlich sind die Differenzen, daſs
die Zahl der Knechte bei Matthäus unbestimmt, bei Lukas
auf zehn festgesezt ist; daſs sie nach Matthäus Talente,
nach Lukas Minen, bei jenem ungleiche Summen (ἑκάςῳ
κατὰ τὴν ἰδίαν δύναμιν) bei Lukas gleiche bekommen, und
sofort nach jenem aus ungleichem Kapital durch gleichen
Kraftaufwand Ungleiches gewinnen, und daher gleich be-
lohnt werden, nach diesem dagegen schaffen sie mit glei-
chem Kapital durch ungleiche Kraftanstrengung Ungleiches,
und werden daher auch ungleich belohnt.

Sollte diese Parabel zu zwei verschiedenen Malen in
veränderter Gestalt aus dem Munde Jesu gekommen sein,
so müſste er sie, wenn Matthäus und Lukas sie richtig
stellen, zuerst in der zusammengesezteren Form, wie sie
Lukas, dann erst in der einfacheren, wie Matthäus sie giebt,
vorgetragen haben 28), da jener sie vor, dieser nach dem
Einzug in Jerusalem sezt. Allein dieſs wäre gegen alle
Analogie. Die erste Ausführung eines Gedankens ist ihrer
Natur nach die einfachere: bei der zweiten können neue
Beziehungen hinzukommen, die Sache von mehreren Sei-
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werden. So müſste jedenfalls mit Schleiermacher angenom-

28) so Kuinöl, Comm. in Luc. p. 635.
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[607/0631] Sechstes Kapitel. §. 74. heiſst, und ihm ein βασιλεύειν zugeschrieben ist, der Zweck seiner Reise aber, den Matthäus nicht angiebt, dahin be- stimmt wird, er sei gezogen εἰς χώραν μακρὰν, λαβεῖν ἑαυτῷ βασιλείαν. Die Unterthanen dieses Herrn nun, heiſst es weiter, haben ihn gehaſst, und nach seiner Abreise ihm den Gehorsam anfkündigen lassen. Daher werden nach der Rückkehr des Herrn neben dem faulen Knecht auch noch die rebellischen Bürger, und zwar durch Niederme- zelung, bestraft, und die treuen Diener nicht bloſs unbe- stimmt durch Eingehen in die χαρὰ ihres Herrn, sondern königlich durch die Schenkung einer Anzahl von Städten belohnt. Weniger wesentlich sind die Differenzen, daſs die Zahl der Knechte bei Matthäus unbestimmt, bei Lukas auf zehn festgesezt ist; daſs sie nach Matthäus Talente, nach Lukas Minen, bei jenem ungleiche Summen (ἑκάςῳ κατὰ τὴν ἰδίαν δύναμιν) bei Lukas gleiche bekommen, und sofort nach jenem aus ungleichem Kapital durch gleichen Kraftaufwand Ungleiches gewinnen, und daher gleich be- lohnt werden, nach diesem dagegen schaffen sie mit glei- chem Kapital durch ungleiche Kraftanstrengung Ungleiches, und werden daher auch ungleich belohnt. Sollte diese Parabel zu zwei verschiedenen Malen in veränderter Gestalt aus dem Munde Jesu gekommen sein, so müſste er sie, wenn Matthäus und Lukas sie richtig stellen, zuerst in der zusammengesezteren Form, wie sie Lukas, dann erst in der einfacheren, wie Matthäus sie giebt, vorgetragen haben 28), da jener sie vor, dieser nach dem Einzug in Jerusalem sezt. Allein dieſs wäre gegen alle Analogie. Die erste Ausführung eines Gedankens ist ihrer Natur nach die einfachere: bei der zweiten können neue Beziehungen hinzukommen, die Sache von mehreren Sei- ten betrachtet und in manchfaltigere Verbindungen gesezt werden. So müſste jedenfalls mit Schleiermacher angenom- 28) so Kuinöl, Comm. in Luc. p. 635.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 607. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/631>, abgerufen am 24.11.2024.