Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Sechstes Kapitel. §. 74.
ten Weg zu dir hinüber machen, um dir Linderung zu
bringen? Ebenso ist das herrliche Leben des Reichen nur
im Contraste gegen das Elend des Armen so ausgemalt;
wäre er als ausschweifend im Genusse vorausgesezt, so
müsste ihn Abraham erinnern, wie er im Leben sich des
Guten zu viel genommen, nicht bloss, wie er sein Gutes
empfangen habe. Nicht minder grundlos ist es andrerseits,
bei Lazarus hohe sittliche Vorzüge vorauszusetzen, da
solche weder in der Beschreibung seiner Persönlichkeit
angedeutet, noch in der Rede Abrahams ihm angerechnet
sind; sein einziges Verdienst ist, in diesem Leben Übles
empfangen zu haben. Es ist also in dieser Parabel als
Massstab bei der künftigen Vergeltung nicht das in diesem
Leben gethane Gute und verübte Böse, sondern das hier
erlittene Übel und genossene Gute vorausgesezt und das
sprechendste Motto zu derselben haben wir in der Berg-
rede nach der Redaktion des Lukas gehabt, in dem: ma-
karioi oi ptokhoi; oti umetera esin e basileia tou theou--plen
ouai umin tois plousiois; oti apekhete ten paraklesin umon,
wo auch erinnert worden ist, wie genau diese Aussprü-
che mit der Weltansicht der Ebioniten zusammenstimmen.
Eine ähnliche Werthschätzung der äusseren Armuth schrei-
ben übrigens auch die andern Synoptiker in der Erzäh-
lung von dem reichen Jüngling und der Gnome vom Kameel
und Nadelöhr (Matth. 19, 16 ff. Marc. 10, 17 ff. vrgl. Luc.
18, 18 ff.) Jesu zu, was, sei es in ihm selbst, oder nur
in der synoptischen Tradition über ihn, durch essenische
Ansichten hervorgerufen scheinen könnte 25). -- Das bisher
Betrachtete ist der Inhalt der Parabel vom reichen Mann
bis V. 27, von wo an der weitere Gedanke von den A. T.li-
chen Schriften, als zureichenden und einzigen Gnaden-
mitteln eintritt.

25) Über die Essener als kataphronetas ploutou vgl. Joseph. b.
j. 2, 8, 3; Credner, über Essener und Ebioniten, in Winer's
Zeitschrift 1, S. 217.; Gfrörer, Philo, 2, 8. 311.

Sechstes Kapitel. §. 74.
ten Weg zu dir hinüber machen, um dir Linderung zu
bringen? Ebenso ist das herrliche Leben des Reichen nur
im Contraste gegen das Elend des Armen so ausgemalt;
wäre er als ausschweifend im Genusse vorausgesezt, so
müsste ihn Abraham erinnern, wie er im Leben sich des
Guten zu viel genommen, nicht bloſs, wie er sein Gutes
empfangen habe. Nicht minder grundlos ist es andrerseits,
bei Lazarus hohe sittliche Vorzüge vorauszusetzen, da
solche weder in der Beschreibung seiner Persönlichkeit
angedeutet, noch in der Rede Abrahams ihm angerechnet
sind; sein einziges Verdienst ist, in diesem Leben Übles
empfangen zu haben. Es ist also in dieser Parabel als
Maſsstab bei der künftigen Vergeltung nicht das in diesem
Leben gethane Gute und verübte Böse, sondern das hier
erlittene Übel und genossene Gute vorausgesezt und das
sprechendste Motto zu derselben haben wir in der Berg-
rede nach der Redaktion des Lukas gehabt, in dem: μα-
κάριοι οἱ πτωχοί· ότι ὺμετέρα ἐςὶν ἡ βασιλεία τοῦ ϑεοῦ—πλὴν
οὐαὶ ὑμῖν τοῖς πλουσίοις· ὅτι ἀπέχετε τὴν παράκλησιν ὑμῶν,
wo auch erinnert worden ist, wie genau diese Aussprü-
che mit der Weltansicht der Ebioniten zusammenstimmen.
Eine ähnliche Werthschätzung der äusseren Armuth schrei-
ben übrigens auch die andern Synoptiker in der Erzäh-
lung von dem reichen Jüngling und der Gnome vom Kameel
und Nadelöhr (Matth. 19, 16 ff. Marc. 10, 17 ff. vrgl. Luc.
18, 18 ff.) Jesu zu, was, sei es in ihm selbst, oder nur
in der synoptischen Tradition über ihn, durch essenische
Ansichten hervorgerufen scheinen könnte 25). — Das bisher
Betrachtete ist der Inhalt der Parabel vom reichen Mann
bis V. 27, von wo an der weitere Gedanke von den A. T.li-
chen Schriften, als zureichenden und einzigen Gnaden-
mitteln eintritt.

25) Über die Essener als καταφρονητὰς πλούτου vgl. Joseph. b.
j. 2, 8, 3; Credner, über Essener und Ebioniten, in Winer's
Zeitschrift 1, S. 217.; Gfrörer, Philo, 2, 8. 311.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0629" n="605"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Sechstes Kapitel</hi>. §. 74.</fw><lb/>
ten Weg zu dir hinüber machen, um dir Linderung zu<lb/>
bringen? Ebenso ist das herrliche Leben des Reichen nur<lb/>
im Contraste gegen das Elend des Armen so ausgemalt;<lb/>
wäre er als ausschweifend im Genusse vorausgesezt, so<lb/>
müsste ihn Abraham erinnern, wie er im Leben sich des<lb/>
Guten zu viel genommen, nicht blo&#x017F;s, wie er sein Gutes<lb/>
empfangen habe. Nicht minder grundlos ist es andrerseits,<lb/>
bei Lazarus hohe sittliche Vorzüge vorauszusetzen, da<lb/>
solche weder in der Beschreibung seiner Persönlichkeit<lb/>
angedeutet, noch in der Rede Abrahams ihm angerechnet<lb/>
sind; sein einziges Verdienst ist, in diesem Leben Übles<lb/>
empfangen zu haben. Es ist also in dieser Parabel als<lb/>
Ma&#x017F;sstab bei der künftigen Vergeltung nicht das in diesem<lb/>
Leben gethane Gute und verübte Böse, sondern das hier<lb/>
erlittene Übel und genossene Gute vorausgesezt und das<lb/>
sprechendste Motto zu derselben haben wir in der Berg-<lb/>
rede nach der Redaktion des Lukas gehabt, in dem: <foreign xml:lang="ell">&#x03BC;&#x03B1;-<lb/>
&#x03BA;&#x03AC;&#x03C1;&#x03B9;&#x03BF;&#x03B9; &#x03BF;&#x1F31; &#x03C0;&#x03C4;&#x03C9;&#x03C7;&#x03BF;&#x03AF;&#x0387; &#x03CC;&#x03C4;&#x03B9; &#x1F7A;&#x03BC;&#x03B5;&#x03C4;&#x03AD;&#x03C1;&#x03B1; &#x1F10;&#x03C2;&#x1F76;&#x03BD; &#x1F21; &#x03B2;&#x03B1;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BB;&#x03B5;&#x03AF;&#x03B1; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FE6; &#x03D1;&#x03B5;&#x03BF;&#x1FE6;&#x2014;&#x03C0;&#x03BB;&#x1F74;&#x03BD;<lb/>
&#x03BF;&#x1F50;&#x03B1;&#x1F76; &#x1F51;&#x03BC;&#x1FD6;&#x03BD; &#x03C4;&#x03BF;&#x1FD6;&#x03C2; &#x03C0;&#x03BB;&#x03BF;&#x03C5;&#x03C3;&#x03AF;&#x03BF;&#x03B9;&#x03C2;&#x0387; &#x1F45;&#x03C4;&#x03B9; &#x1F00;&#x03C0;&#x03AD;&#x03C7;&#x03B5;&#x03C4;&#x03B5; &#x03C4;&#x1F74;&#x03BD; &#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03AC;&#x03BA;&#x03BB;&#x03B7;&#x03C3;&#x03B9;&#x03BD; &#x1F51;&#x03BC;&#x1FF6;&#x03BD;</foreign>,<lb/>
wo auch erinnert worden ist, wie genau diese Aussprü-<lb/>
che mit der Weltansicht der Ebioniten zusammenstimmen.<lb/>
Eine ähnliche Werthschätzung der äusseren Armuth schrei-<lb/>
ben übrigens auch die andern Synoptiker in der Erzäh-<lb/>
lung von dem reichen Jüngling und der Gnome vom Kameel<lb/>
und Nadelöhr (Matth. 19, 16 ff. Marc. 10, 17 ff. vrgl. Luc.<lb/>
18, 18 ff.) Jesu zu, was, sei es in ihm selbst, oder nur<lb/>
in der synoptischen Tradition über ihn, durch essenische<lb/>
Ansichten hervorgerufen scheinen könnte <note place="foot" n="25)">Über die Essener als <foreign xml:lang="ell">&#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B1;&#x03C6;&#x03C1;&#x03BF;&#x03BD;&#x03B7;&#x03C4;&#x1F70;&#x03C2; &#x03C0;&#x03BB;&#x03BF;&#x03CD;&#x03C4;&#x03BF;&#x03C5;</foreign> vgl. Joseph. b.<lb/>
j. 2, 8, 3; <hi rendition="#k">Credner</hi>, über Essener und Ebioniten, in <hi rendition="#k">Winer</hi>'s<lb/>
Zeitschrift 1, S. 217.; <hi rendition="#k">Gfrörer</hi>, Philo, 2, 8. 311.</note>. &#x2014; Das bisher<lb/>
Betrachtete ist der Inhalt der Parabel vom reichen Mann<lb/>
bis V. 27, von wo an der weitere Gedanke von den A. T.li-<lb/>
chen Schriften, als zureichenden und einzigen Gnaden-<lb/>
mitteln eintritt.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[605/0629] Sechstes Kapitel. §. 74. ten Weg zu dir hinüber machen, um dir Linderung zu bringen? Ebenso ist das herrliche Leben des Reichen nur im Contraste gegen das Elend des Armen so ausgemalt; wäre er als ausschweifend im Genusse vorausgesezt, so müsste ihn Abraham erinnern, wie er im Leben sich des Guten zu viel genommen, nicht bloſs, wie er sein Gutes empfangen habe. Nicht minder grundlos ist es andrerseits, bei Lazarus hohe sittliche Vorzüge vorauszusetzen, da solche weder in der Beschreibung seiner Persönlichkeit angedeutet, noch in der Rede Abrahams ihm angerechnet sind; sein einziges Verdienst ist, in diesem Leben Übles empfangen zu haben. Es ist also in dieser Parabel als Maſsstab bei der künftigen Vergeltung nicht das in diesem Leben gethane Gute und verübte Böse, sondern das hier erlittene Übel und genossene Gute vorausgesezt und das sprechendste Motto zu derselben haben wir in der Berg- rede nach der Redaktion des Lukas gehabt, in dem: μα- κάριοι οἱ πτωχοί· ότι ὺμετέρα ἐςὶν ἡ βασιλεία τοῦ ϑεοῦ—πλὴν οὐαὶ ὑμῖν τοῖς πλουσίοις· ὅτι ἀπέχετε τὴν παράκλησιν ὑμῶν, wo auch erinnert worden ist, wie genau diese Aussprü- che mit der Weltansicht der Ebioniten zusammenstimmen. Eine ähnliche Werthschätzung der äusseren Armuth schrei- ben übrigens auch die andern Synoptiker in der Erzäh- lung von dem reichen Jüngling und der Gnome vom Kameel und Nadelöhr (Matth. 19, 16 ff. Marc. 10, 17 ff. vrgl. Luc. 18, 18 ff.) Jesu zu, was, sei es in ihm selbst, oder nur in der synoptischen Tradition über ihn, durch essenische Ansichten hervorgerufen scheinen könnte 25). — Das bisher Betrachtete ist der Inhalt der Parabel vom reichen Mann bis V. 27, von wo an der weitere Gedanke von den A. T.li- chen Schriften, als zureichenden und einzigen Gnaden- mitteln eintritt. 25) Über die Essener als καταφρονητὰς πλούτου vgl. Joseph. b. j. 2, 8, 3; Credner, über Essener und Ebioniten, in Winer's Zeitschrift 1, S. 217.; Gfrörer, Philo, 2, 8. 311.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/629
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 605. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/629>, abgerufen am 18.07.2024.