Das Publikum, für welches die Bergrede bestimmt war, könnte von Lukas als ein engerer Kreis bezeichnet zu sein scheinen, wenn er die Apostelwahl unmittelbar vorhergehen, und bei'm Beginn des Vortrags Jesum die Augen eis tous mathetas autou erheben lässt, als von Mat- thäus, der der Rede eine Beziehung auf die okhlous giebt. Da indessen andererseits sowohl Matthäus vor der Berg- rede die mathetas zu Jesu treten und diese sofort von ihm belehrt werden, als auch Lukas ihn die Rede eis tas akoas tou laou halten lässt: so zeigt sich, dass Jesus zum versammelten Volk überhaupt, doch mit besonderer Be- ziehung auf seine Schüler geredet hat 11); denn dass hier ein bestimmter feierlicher Redeakt zum Grunde liege, ha- ben wir nicht Ursache zu bezweifeln.
Schreiten wir jezt zur Betrachtung des Einzelnen: so ist in beiden Redaktionen die Bergrede durch eine Anzahl von Makarismen eröffnet, von welchen übrigens bei Lukas nicht nur mehrere fehlen, sondern auch, wie Storr12) besser eingesehen hat, als jezt Olshausen, die meisten in einem andern Sinn genommen sind, als bei Matthäus. Indem nämlich weder die ptokhoi, wie bei Matthäus, durch den Zusaz to pneumati näher bestimmt, also nicht die Ein- fältigen und Demüthigen, sondern die eigentlich Armen sind, noch der Hunger der peinontes auf ten dikaiosunen bezogen, also kein geistiger, sondern ein leiblicher ist, dagegen sowohl die peinontes als die klaiontes durch die Zeitbestimmung nun näher bezeichnet werden: so ist der Gegensaz bei Lukas nicht wie bei Matthäus der concrete von jezt unbefriedigten und leidenden Frommen und de- ren künftiger Glückseligkeit, sondern der abstrakte von jetzigem Leiden und künftigem Wohlergehen überhaupt. Diese Art der Entgegensetzung des aion outos und mellon
11) vgl. Tholuck, a. a. O. S. 25 ff.
12) Über den Zweck u. s. w. S. 348.
Sechstes Kapitel. §. 72.
Das Publikum, für welches die Bergrede bestimmt war, könnte von Lukas als ein engerer Kreis bezeichnet zu sein scheinen, wenn er die Apostelwahl unmittelbar vorhergehen, und bei'm Beginn des Vortrags Jesum die Augen εἰς τοὺς μαϑητὰς αὑτοῦ erheben läſst, als von Mat- thäus, der der Rede eine Beziehung auf die ὄχλους giebt. Da indessen andererseits sowohl Matthäus vor der Berg- rede die μαϑητὰς zu Jesu treten und diese sofort von ihm belehrt werden, als auch Lukas ihn die Rede εἰς τὰς ἀκοὰς τοῦ λαοῦ halten läſst: so zeigt sich, daſs Jesus zum versammelten Volk überhaupt, doch mit besonderer Be- ziehung auf seine Schüler geredet hat 11); denn daſs hier ein bestimmter feierlicher Redeakt zum Grunde liege, ha- ben wir nicht Ursache zu bezweifeln.
Schreiten wir jezt zur Betrachtung des Einzelnen: so ist in beiden Redaktionen die Bergrede durch eine Anzahl von Makarismen eröffnet, von welchen übrigens bei Lukas nicht nur mehrere fehlen, sondern auch, wie Storr12) besser eingesehen hat, als jezt Olshausen, die meisten in einem andern Sinn genommen sind, als bei Matthäus. Indem nämlich weder die πτωχοὶ, wie bei Matthäus, durch den Zusaz τῷ πνεύματι näher bestimmt, also nicht die Ein- fältigen und Demüthigen, sondern die eigentlich Armen sind, noch der Hunger der πεινῶντες auf τὴν δικαιοσύνην bezogen, also kein geistiger, sondern ein leiblicher ist, dagegen sowohl die πεινῶντες als die κλαίοντες durch die Zeitbestimmung νῦν näher bezeichnet werden: so ist der Gegensaz bei Lukas nicht wie bei Matthäus der concrete von jezt unbefriedigten und leidenden Frommen und de- ren künftiger Glückseligkeit, sondern der abstrakte von jetzigem Leiden und künftigem Wohlergehen überhaupt. Diese Art der Entgegensetzung des αἰὼν ούτος und μέλλων
11) vgl. Tholuck, a. a. O. S. 25 ff.
12) Über den Zweck u. s. w. S. 348.
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Sechstes Kapitel. §. 72.
Das Publikum, für welches die Bergrede bestimmt
war, könnte von Lukas als ein engerer Kreis bezeichnet
zu sein scheinen, wenn er die Apostelwahl unmittelbar
vorhergehen, und bei'm Beginn des Vortrags Jesum die
Augen εἰς τοὺς μαϑητὰς αὑτοῦ erheben läſst, als von Mat-
thäus, der der Rede eine Beziehung auf die ὄχλους giebt.
Da indessen andererseits sowohl Matthäus vor der Berg-
rede die μαϑητὰς zu Jesu treten und diese sofort von
ihm belehrt werden, als auch Lukas ihn die Rede εἰς τὰς
ἀκοὰς τοῦ λαοῦ halten läſst: so zeigt sich, daſs Jesus zum
versammelten Volk überhaupt, doch mit besonderer Be-
ziehung auf seine Schüler geredet hat 11); denn daſs hier
ein bestimmter feierlicher Redeakt zum Grunde liege, ha-
ben wir nicht Ursache zu bezweifeln.
Schreiten wir jezt zur Betrachtung des Einzelnen: so
ist in beiden Redaktionen die Bergrede durch eine Anzahl
von Makarismen eröffnet, von welchen übrigens bei Lukas
nicht nur mehrere fehlen, sondern auch, wie Storr 12)
besser eingesehen hat, als jezt Olshausen, die meisten in
einem andern Sinn genommen sind, als bei Matthäus.
Indem nämlich weder die πτωχοὶ, wie bei Matthäus, durch
den Zusaz τῷ πνεύματι näher bestimmt, also nicht die Ein-
fältigen und Demüthigen, sondern die eigentlich Armen
sind, noch der Hunger der πεινῶντες auf τὴν δικαιοσύνην
bezogen, also kein geistiger, sondern ein leiblicher ist,
dagegen sowohl die πεινῶντες als die κλαίοντες durch die
Zeitbestimmung νῦν näher bezeichnet werden: so ist der
Gegensaz bei Lukas nicht wie bei Matthäus der concrete
von jezt unbefriedigten und leidenden Frommen und de-
ren künftiger Glückseligkeit, sondern der abstrakte von
jetzigem Leiden und künftigem Wohlergehen überhaupt.
Diese Art der Entgegensetzung des αἰὼν ούτος und μέλλων
11) vgl. Tholuck, a. a. O. S. 25 ff.
12) Über den Zweck u. s. w. S. 348.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/599>, abgerufen am 22.11.2024.
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