Erzählung durch Zusammenfliessen der Volksdeutung mit dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön- ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer- den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23. die Erzählung des Josephus 11). Da solche controlirende Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä- rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.
Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf die Wundergeschichten Krug12) bezeichnen wollte, wenn er eine physikalische oder materiale, und eine genetische oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig- niss, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän- den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh- lung von diesem Wunderereigniss nach und nach entstan- den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er- zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh- lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor- schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er- klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere
11) Antiquit. 19, 8, 2.
12) Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803).
3*
Einleitung. §. 8.
Erzählung durch Zusammenflieſsen der Volksdeutung mit dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön- ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer- den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23. die Erzählung des Josephus 11). Da solche controlirende Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä- rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.
Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf die Wundergeschichten Krug12) bezeichnen wollte, wenn er eine physikalische oder materiale, und eine genetische oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig- niſs, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän- den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh- lung von diesem Wunderereigniſs nach und nach entstan- den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er- zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh- lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor- schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er- klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere
11) Antiquit. 19, 8, 2.
12) Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803).
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Einleitung. §. 8.
Erzählung durch Zusammenflieſsen der Volksdeutung mit
dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön-
ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer-
den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht
vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie
über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23.
die Erzählung des Josephus 11). Da solche controlirende
Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der
Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er
bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche
Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in
der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie
Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä-
rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.
Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen
Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf
die Wundergeschichten Krug 12) bezeichnen wollte, wenn
er eine physikalische oder materiale, und eine genetische
oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene
untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig-
niſs, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän-
den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich
gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh-
lung von diesem Wunderereigniſs nach und nach entstan-
den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er-
zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem
Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh-
lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart
hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor-
schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er-
klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere
11) Antiquit. 19, 8, 2.
12) Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der
Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803).
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/59>, abgerufen am 24.11.2024.
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