Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Einleitung. §. 8.
Erzählung durch Zusammenfliessen der Volksdeutung mit
dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön-
ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer-
den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht
vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie
über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23.
die Erzählung des Josephus 11). Da solche controlirende
Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der
Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er
bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche
Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in
der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie
Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä-
rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.

Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen
Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf
die Wundergeschichten Krug 12) bezeichnen wollte, wenn
er eine physikalische oder materiale, und eine genetische
oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene
untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig-
niss
, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän-
den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich
gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh-
lung
von diesem Wunderereigniss nach und nach entstan-
den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er-
zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem
Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh-
lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart
hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor-
schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er-
klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere

11) Antiquit. 19, 8, 2.
12) Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der
Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803).
3*

Einleitung. §. 8.
Erzählung durch Zusammenflieſsen der Volksdeutung mit
dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön-
ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer-
den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht
vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie
über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23.
die Erzählung des Josephus 11). Da solche controlirende
Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der
Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er
bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche
Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in
der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie
Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä-
rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.

Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen
Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf
die Wundergeschichten Krug 12) bezeichnen wollte, wenn
er eine physikalische oder materiale, und eine genetische
oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene
untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig-
niſs
, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän-
den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich
gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh-
lung
von diesem Wunderereigniſs nach und nach entstan-
den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er-
zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem
Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh-
lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart
hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor-
schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er-
klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere

11) Antiquit. 19, 8, 2.
12) Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der
Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803).
3*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0059" n="35"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Einleitung</hi>. §. 8.</fw><lb/>
Erzählung durch Zusammenflie&#x017F;sen der Volksdeutung mit<lb/>
dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön-<lb/>
ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer-<lb/>
den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht<lb/>
vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie<lb/>
über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23.<lb/>
die Erzählung des Josephus <note place="foot" n="11)">Antiquit. 19, 8, 2.</note>. Da solche controlirende<lb/>
Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der<lb/>
Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er<lb/>
bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche<lb/>
Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in<lb/>
der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie<lb/><hi rendition="#k">Eichhorn</hi> erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä-<lb/>
rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen.</p><lb/>
          <p>Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen<lb/>
Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf<lb/>
die Wundergeschichten <hi rendition="#k">Krug</hi> <note place="foot" n="12)">Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der<lb/>
Wunder. In <hi rendition="#k">Henkes</hi> Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803).</note> bezeichnen wollte, wenn<lb/>
er eine physikalische oder materiale, und eine genetische<lb/>
oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene<lb/>
untersucht nach <hi rendition="#k">Krug</hi>: wie mag dies wundervolle <hi rendition="#g">Ereig-<lb/>
ni&#x017F;s</hi>, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän-<lb/>
den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich<lb/>
gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die <hi rendition="#g">Erzäh-<lb/>
lung</hi> von diesem Wunderereigni&#x017F;s nach und nach entstan-<lb/>
den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er-<lb/>
zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem<lb/>
Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh-<lb/>
lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart<lb/>
hält <hi rendition="#k">Krug</hi> für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor-<lb/>
schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er-<lb/>
klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">3*</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0059] Einleitung. §. 8. Erzählung durch Zusammenflieſsen der Volksdeutung mit dem Factum etwas als übernatürlich dargestellt sei, so kön- ne die natürliche Thatsache nur dann noch enträthselt wer- den, wenn über denselben Gegenstand ein zweiter Bericht vorhanden sei, der jene Vermengung nicht enthalte, wie über das Ende des Herodes Agrippa neben A. G. 12, 23. die Erzählung des Josephus 11). Da solche controlirende Berichte über die Geschichte Jesu fehlen: so würde der Erklärer nur unerweisliche Hypothesen spinnen, wenn er bei den wunderhaft lautenden Erzählungen die natürliche Ursache noch entdecken wollte, wo sie nicht deutlich in der Erzählung liegt, eine Bemerkung, durch welche, wie Eichhorn erklärt, viele sogenannte psychologische Erklä- rungen der Evangelien in ihre Nichtigkeit hinfallen. Derselbe Unterschied der natürlicher und mythischen Erklärungsart ist es, welchen mit besondrer Beziehung auf die Wundergeschichten Krug 12) bezeichnen wollte, wenn er eine physikalische oder materiale, und eine genetische oder formelle Art der Wundererklärung unterschied. Jene untersucht nach Krug: wie mag dies wundervolle Ereig- niſs, welches hier erzählt ist, nach allen seinen Umstän- den durch Naturkräfte und nach Naturgesetzen möglich gewesen sein? wogegen diese fragt: wie mag die Erzäh- lung von diesem Wunderereigniſs nach und nach entstan- den sein? Jene erklärt die natürliche Möglichkeit der er- zählten Sache (des Stoffs der Erzählung), diese spürt dem Ursprung des vorliegenden Berichts (der Form der Erzäh- lung) nach. Die Versuche mit der ersteren Erklärungsart hält Krug für fruchtlos, weil sie Erklärungen zum Vor- schein bringen, welche noch wunderbarer als das zu er- klärende Factum seien; viel belohnender sei der andere 11) Antiquit. 19, 8, 2. 12) Versuch über die genetische oder formelle Erklärungsart der Wunder. In Henkes Museum 1, 3, S. 395 ff. (1803). 3*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/59
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/59>, abgerufen am 28.04.2024.