Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Zweiter Abschnitt. Aufenthalt des Nathanael unter dem Feigenbaume weiss.Jedenfalls aber, wenn er ihm nun den bedeutsamen Bei- namen Kephas oder Petros zulegt, so ist diess, sofern man dieses Diktum nicht mit Paulus durch Beziehung auf die Körpergestalt des Mannes bis zum Scurrilen herunterzie- hen will 9), so gemeint, dass Jesus auf den ersten Anblick mit dem Auge des kardiognoses sein Inneres durchschaut, und nicht blos seine allgemeine Befähigung zum Apostolat, sondern auch die individuellen Eigenschaften erkannt habe, welche den Mann mit einem Felsen vergleichbar machten. Diesen Beinamen, sammt einer Erklärung seiner Bedeu- tung, lässt Matthäus dem Simon erst nach längerem Um- gang mit Jesu und nachdem er schon manche Proben sei- nes eigenthümlichen Wesens abgelegt, gegeben werden (16, 18): weit natürlicher offenbar (obgleich gar wohl die christliche Sage von einem Namen, welchen Simon viel- leicht von jeher geführt hatte, weil er bedeutsam schien, Jesum als den Urheber dargestellt haben könnte), als der vierte Evangelist, wenn er Jesum gleich auf den ersten Blick die eigenthümliche Bedeutung weghaben lässt, welche Simon für seine Sache dereinst gewinnen sollte; ein odo- rando judicare, welches über das von den Synoptikern behauptete in dem Grade hinausgeht, in welchem das su klethese Kephas eine genauere Kenntniss des Mannes vor- aussezt, als das poieso umas alieis anthropon. Auch nach einer längeren Unterredung mit Petrus, wie Lücke eine voraussezt 10), konnte sich Jesus keinen so bestimmten Ausspruch über seinen Charakter erlauben, ohne entweder Herzenskündiger zu sein, oder eines vorschnellen Urtheils beschuldigt werden zu müssen. Vollends aber die Verhandlung mit Nathanael ist ein 9) Leben Jesu, 1, a, S. 168. 10) S. 385.
Zweiter Abschnitt. Aufenthalt des Nathanaël unter dem Feigenbaume weiſs.Jedenfalls aber, wenn er ihm nun den bedeutsamen Bei- namen Κηφᾶς oder Πέτρος zulegt, so ist dieſs, sofern man dieses Diktum nicht mit Paulus durch Beziehung auf die Körpergestalt des Mannes bis zum Scurrilen herunterzie- hen will 9), so gemeint, daſs Jesus auf den ersten Anblick mit dem Auge des καρδιογνώςης sein Inneres durchschaut, und nicht blos seine allgemeine Befähigung zum Apostolat, sondern auch die individuellen Eigenschaften erkannt habe, welche den Mann mit einem Felsen vergleichbar machten. Diesen Beinamen, sammt einer Erklärung seiner Bedeu- tung, läſst Matthäus dem Simon erst nach längerem Um- gang mit Jesu und nachdem er schon manche Proben sei- nes eigenthümlichen Wesens abgelegt, gegeben werden (16, 18): weit natürlicher offenbar (obgleich gar wohl die christliche Sage von einem Namen, welchen Simon viel- leicht von jeher geführt hatte, weil er bedeutsam schien, Jesum als den Urheber dargestellt haben könnte), als der vierte Evangelist, wenn er Jesum gleich auf den ersten Blick die eigenthümliche Bedeutung weghaben läſst, welche Simon für seine Sache dereinst gewinnen sollte; ein odo- rando judicare, welches über das von den Synoptikern behauptete in dem Grade hinausgeht, in welchem das σὺ κληϑήσῃ Κηφᾶς eine genauere Kenntniſs des Mannes vor- aussezt, als das ποιήσω ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνϑρώπων. Auch nach einer längeren Unterredung mit Petrus, wie Lücke eine voraussezt 10), konnte sich Jesus keinen so bestimmten Ausspruch über seinen Charakter erlauben, ohne entweder Herzenskündiger zu sein, oder eines vorschnellen Urtheils beschuldigt werden zu müssen. Vollends aber die Verhandlung mit Nathanaël ist ein 9) Leben Jesu, 1, a, S. 168. 10) S. 385.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0552" n="528"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/> Aufenthalt des Nathanaël unter dem Feigenbaume weiſs.<lb/> Jedenfalls aber, wenn er ihm nun den bedeutsamen Bei-<lb/> namen Κηφᾶς oder Πέτρος zulegt, so ist dieſs, sofern man<lb/> dieses Diktum nicht mit <hi rendition="#k">Paulus</hi> durch Beziehung auf die<lb/> Körpergestalt des Mannes bis zum Scurrilen herunterzie-<lb/> hen will <note place="foot" n="9)">Leben Jesu, 1, a, S. 168.</note>, so gemeint, daſs Jesus auf den ersten Anblick<lb/> mit dem Auge des καρδιογνώςης sein Inneres durchschaut,<lb/> und nicht blos seine allgemeine Befähigung zum Apostolat,<lb/> sondern auch die individuellen Eigenschaften erkannt habe,<lb/> welche den Mann mit einem Felsen vergleichbar machten.<lb/> Diesen Beinamen, sammt einer Erklärung seiner Bedeu-<lb/> tung, läſst Matthäus dem Simon erst nach längerem Um-<lb/> gang mit Jesu und nachdem er schon manche Proben sei-<lb/> nes eigenthümlichen Wesens abgelegt, gegeben werden<lb/> (16, 18): weit natürlicher offenbar (obgleich gar wohl die<lb/> christliche Sage von einem Namen, welchen Simon viel-<lb/> leicht von jeher geführt hatte, weil er bedeutsam schien,<lb/> Jesum als den Urheber dargestellt haben könnte), als der<lb/> vierte Evangelist, wenn er Jesum gleich auf den ersten<lb/> Blick die eigenthümliche Bedeutung weghaben läſst, welche<lb/> Simon für seine Sache dereinst gewinnen sollte; ein <hi rendition="#i">odo-<lb/> rando judicare</hi>, welches über das von den Synoptikern<lb/> behauptete in dem Grade hinausgeht, in welchem das <foreign xml:lang="ell">σὺ<lb/> κληϑήσῃ Κηφᾶς</foreign> eine genauere Kenntniſs des Mannes vor-<lb/> aussezt, als das <foreign xml:lang="ell">ποιήσω ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνϑρώπων</foreign>. Auch nach<lb/> einer längeren Unterredung mit Petrus, wie <hi rendition="#k">Lücke</hi> eine<lb/> voraussezt <note place="foot" n="10)">S. 385.</note>, konnte sich Jesus keinen so bestimmten<lb/> Ausspruch über seinen Charakter erlauben, ohne entweder<lb/> Herzenskündiger zu sein, oder eines vorschnellen Urtheils<lb/> beschuldigt werden zu müssen.</p><lb/> <p>Vollends aber die Verhandlung mit Nathanaël ist ein<lb/> Gewebe von Unwahrscheinlichkeiten. Wie Philippus ihm<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [528/0552]
Zweiter Abschnitt.
Aufenthalt des Nathanaël unter dem Feigenbaume weiſs.
Jedenfalls aber, wenn er ihm nun den bedeutsamen Bei-
namen Κηφᾶς oder Πέτρος zulegt, so ist dieſs, sofern man
dieses Diktum nicht mit Paulus durch Beziehung auf die
Körpergestalt des Mannes bis zum Scurrilen herunterzie-
hen will 9), so gemeint, daſs Jesus auf den ersten Anblick
mit dem Auge des καρδιογνώςης sein Inneres durchschaut,
und nicht blos seine allgemeine Befähigung zum Apostolat,
sondern auch die individuellen Eigenschaften erkannt habe,
welche den Mann mit einem Felsen vergleichbar machten.
Diesen Beinamen, sammt einer Erklärung seiner Bedeu-
tung, läſst Matthäus dem Simon erst nach längerem Um-
gang mit Jesu und nachdem er schon manche Proben sei-
nes eigenthümlichen Wesens abgelegt, gegeben werden
(16, 18): weit natürlicher offenbar (obgleich gar wohl die
christliche Sage von einem Namen, welchen Simon viel-
leicht von jeher geführt hatte, weil er bedeutsam schien,
Jesum als den Urheber dargestellt haben könnte), als der
vierte Evangelist, wenn er Jesum gleich auf den ersten
Blick die eigenthümliche Bedeutung weghaben läſst, welche
Simon für seine Sache dereinst gewinnen sollte; ein odo-
rando judicare, welches über das von den Synoptikern
behauptete in dem Grade hinausgeht, in welchem das σὺ
κληϑήσῃ Κηφᾶς eine genauere Kenntniſs des Mannes vor-
aussezt, als das ποιήσω ὑμᾶς ἁλιεῖς ἀνϑρώπων. Auch nach
einer längeren Unterredung mit Petrus, wie Lücke eine
voraussezt 10), konnte sich Jesus keinen so bestimmten
Ausspruch über seinen Charakter erlauben, ohne entweder
Herzenskündiger zu sein, oder eines vorschnellen Urtheils
beschuldigt werden zu müssen.
Vollends aber die Verhandlung mit Nathanaël ist ein
Gewebe von Unwahrscheinlichkeiten. Wie Philippus ihm
9) Leben Jesu, 1, a, S. 168.
10) S. 385.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |