theils durch nomos und prophetai die ganze A. T.liche Re- ligionsverfassung im weitesten Umfang bezeichnet 12), theils sind unter den unbedeutendsten Geboten und kleinsten Buch- staben des Gesetzes, welche gleichwohl nicht abrogirt wer- den sollen, nicht wohl andre, als eben Ceremonialgebote zu verstehen 13).
Glücklicher ist die Unterscheidung zwischen wirklich mosaischen Vorschriften und den traditionellen Zusätzen zu denselben 14). Wirklich liefen ja die Sabbatheilungen Je- su, seine Geringschätzung des pedantischen Waschens vor dem Essen u. dgl. nicht gegen Moses, sondern nur gegen spätere rabbinische Satzungen, und auch mehrere Reden Jesu führen auf diesen Unterschied. Matth. 15, 3 ff. stellt Jesus die paradosis ton pre[s]buter[on] der entole tou theou gegenüber, und Matth. 23, 23. erklärt er, wo sich beide miteinander vertragen, möge man ta[u]t[a] poiesai, kake[i]na me aphienai, wesswegen er auch V. 3. das Volk ermahnt, alles was ihm die Schriftgelehrten und Pharisäer vorschrei- ben, zu thun; könne oder wolle man dagegen nur Eines oder das Andere thun, bemerkt er Matth. 15, 3 ff., so sei es gerathener, um dem göttlichen (durch Moses gegebenen) Gebot folgen zu können, parabainein ten paradosin, als umgekehrt paraba[i]nein ten entolen tou theou dia ten para- dosin. Überhaupt findet er in der Masse traditioneller Ge- bote ein phortion dusbasakton (23, 4.), welches er dem hart- gedrückten Volke abzunehmen und ihm dafür sein phort[i]on elaphron, seinen zugos khresos aufzulegen gedenkt (11, 29 f.), wesswegen bei aller Schonung, die er gegen das Bestehen- de, sofern es nur nicht positiv verderblich wirkte, auszu- üben geneigt war, doch seine Meinung dahin gieng, dass
12)Fritzsche, S. 214.
13) s. den Fragmentisten, vom Zwecke u. s. w. S. 69.
14)Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 600 f. Leben Jesu, 1, a, S. 296. 312.
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Viertes Kapitel. §. 63.
theils durch νόμος und προφῆται die ganze A. T.liche Re- ligionsverfassung im weitesten Umfang bezeichnet 12), theils sind unter den unbedeutendsten Geboten und kleinsten Buch- staben des Gesetzes, welche gleichwohl nicht abrogirt wer- den sollen, nicht wohl andre, als eben Ceremonialgebote zu verstehen 13).
Glücklicher ist die Unterscheidung zwischen wirklich mosaischen Vorschriften und den traditionellen Zusätzen zu denselben 14). Wirklich liefen ja die Sabbatheilungen Je- su, seine Geringschätzung des pedantischen Waschens vor dem Essen u. dgl. nicht gegen Moses, sondern nur gegen spätere rabbinische Satzungen, und auch mehrere Reden Jesu führen auf diesen Unterschied. Matth. 15, 3 ff. stellt Jesus die παράδοσις τῶν πρε[σ]βυτέρ[ων] der ἐντολὴ τοῦ ϑεοῦ gegenüber, und Matth. 23, 23. erklärt er, wo sich beide miteinander vertragen, möge man τα[ῦ]τ[α] ποιῆσαι, κἀκε[ῖ]να μὴ ἀφιέναι, weſswegen er auch V. 3. das Volk ermahnt, alles was ihm die Schriftgelehrten und Pharisäer vorschrei- ben, zu thun; könne oder wolle man dagegen nur Eines oder das Andere thun, bemerkt er Matth. 15, 3 ff., so sei es gerathener, um dem göttlichen (durch Moses gegebenen) Gebot folgen zu können, παραβαίνειν τὴν παράδοσιν, als umgekehrt παραβα[ί]νειν τὴν ἐντολὴν τοῦ ϑεοῦ διὰ τὴν παρά- δοσιν. Überhaupt findet er in der Masse traditioneller Ge- bote ein φορτίον δυσβάςακτον (23, 4.), welches er dem hart- gedrückten Volke abzunehmen und ihm dafür sein φορτ[ί]ον ἐλαφρον, seinen ζυγὸς χρηςος aufzulegen gedenkt (11, 29 f.), weſswegen bei aller Schonung, die er gegen das Bestehen- de, sofern es nur nicht positiv verderblich wirkte, auszu- üben geneigt war, doch seine Meinung dahin gieng, daſs
12)Fritzsche, S. 214.
13) s. den Fragmentisten, vom Zwecke u. s. w. S. 69.
14)Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 600 f. Leben Jesu, 1, a, S. 296. 312.
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Viertes Kapitel. §. 63.
theils durch νόμος und προφῆται die ganze A. T.liche Re-
ligionsverfassung im weitesten Umfang bezeichnet 12), theils
sind unter den unbedeutendsten Geboten und kleinsten Buch-
staben des Gesetzes, welche gleichwohl nicht abrogirt wer-
den sollen, nicht wohl andre, als eben Ceremonialgebote
zu verstehen 13).
Glücklicher ist die Unterscheidung zwischen wirklich
mosaischen Vorschriften und den traditionellen Zusätzen zu
denselben 14). Wirklich liefen ja die Sabbatheilungen Je-
su, seine Geringschätzung des pedantischen Waschens vor
dem Essen u. dgl. nicht gegen Moses, sondern nur gegen
spätere rabbinische Satzungen, und auch mehrere Reden
Jesu führen auf diesen Unterschied. Matth. 15, 3 ff. stellt
Jesus die παράδοσις τῶν πρεσβυτέρων der ἐντολὴ τοῦ ϑεοῦ
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μὴ ἀφιέναι, weſswegen er auch V. 3. das Volk ermahnt,
alles was ihm die Schriftgelehrten und Pharisäer vorschrei-
ben, zu thun; könne oder wolle man dagegen nur Eines
oder das Andere thun, bemerkt er Matth. 15, 3 ff., so sei
es gerathener, um dem göttlichen (durch Moses gegebenen)
Gebot folgen zu können, παραβαίνειν τὴν παράδοσιν, als
umgekehrt παραβαίνειν τὴν ἐντολὴν τοῦ ϑεοῦ διὰ τὴν παρά-
δοσιν. Überhaupt findet er in der Masse traditioneller Ge-
bote ein φορτίον δυσβάςακτον (23, 4.), welches er dem hart-
gedrückten Volke abzunehmen und ihm dafür sein φορτίον
ἐλαφρον, seinen ζυγὸς χρηςος aufzulegen gedenkt (11, 29 f.),
weſswegen bei aller Schonung, die er gegen das Bestehen-
de, sofern es nur nicht positiv verderblich wirkte, auszu-
üben geneigt war, doch seine Meinung dahin gieng, daſs
12) Fritzsche, S. 214.
13) s. den Fragmentisten, vom Zwecke u. s. w. S. 69.
14) Paulus, exeg. Handb. 1, b, S. 600 f. Leben Jesu, 1, a, S. 296.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 499. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/523>, abgerufen am 22.11.2024.
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