Stellen durch hermeneutische Künste zu entkräften. Dass Beides gleich einseitig sei, hat man neuerlich anerkannt, und die Nothwendigkeit einer Ausgleichung eingesehen.
Diese hat man vornehmlich so versucht, dass man eine frühere und eine spätere Gestaltung des Planes Jesu unter- schied 2). Obgleich, hat man gesagt, sittliche Besserung und religiöse Erhebung seines Volkes von jeher sein Haupt- zweck gewesen sei, so habe er doch zu Anfang seines öf- fentlichen Wirkens die Hoffnung gehegt, vermittelst dieser innern Wiedergeburt auch die äussere Herrlichkeit der Theokratie zu erneuern, wenn er von seiner Nation als Messias anerkannt nnd dadurch zugleich als die höchste Staatsgewalt constituirt würde; erst als diese Hoffnung fehl- geschlagen, habe er hierin die göttliche Verwerfung jeder politischen Beziehung seines Planes erkannt, und dadurch diesen zur reinen Geistigkeit verklärt. Eine solche Verän- derung im Plane Jesu soll namentlich daraus hervorgehen, dass über sein erstes Auftreten ebensoviel Heiterkeit, als über die spätere Zeit seines Wirkens Wehmuth ausgegos- sen sei, dass an die Stelle des angenehmen Jahrs des Herrn, das er Anfangs verkündete, hernach das Wehe habe tre- ten müssen, und dass er selbst über Jerusalem gesagt ha- be, er habe es zu retten gedacht, nun aber werde es, auch politisch, untergehen. Da jedoch die Evangelisten diese beiden angeblichen Perioden nicht auseinanderhalten, sondern g[e]rade die zwei für das Politische im Plane Jesu gewichtigsten Data, die Verheissung des Sitzens auf Thro- nen und den Einzug, in die lezte Zeit des Lebens Jesu stellen: so könnte zwar, wie oben in Bezug auf das Ver- hältniss Jesu zur messianischen Idee überhaupt, so auch
2)Paulus, Leben Jesu 1, b. S. 85. 94. 106 ff; Venturini, 2, S. 310 f. Hase, Leben Jesu §§. 68. 84. In der so eben erschie- nenen zweiten Auflage, §§. 49. 50. (vrgl. die theol. Streit- schriften, S. 61 ff.) hat Hase diese Ansicht, wiewohl ungern, zurückgenommen.
Zweiter Abschnitt.
Stellen durch hermeneutische Künste zu entkräften. Daſs Beides gleich einseitig sei, hat man neuerlich anerkannt, und die Nothwendigkeit einer Ausgleichung eingesehen.
Diese hat man vornehmlich so versucht, daſs man eine frühere und eine spätere Gestaltung des Planes Jesu unter- schied 2). Obgleich, hat man gesagt, sittliche Besserung und religiöse Erhebung seines Volkes von jeher sein Haupt- zweck gewesen sei, so habe er doch zu Anfang seines öf- fentlichen Wirkens die Hoffnung gehegt, vermittelst dieser innern Wiedergeburt auch die äussere Herrlichkeit der Theokratie zu erneuern, wenn er von seiner Nation als Messias anerkannt nnd dadurch zugleich als die höchste Staatsgewalt constituirt würde; erst als diese Hoffnung fehl- geschlagen, habe er hierin die göttliche Verwerfung jeder politischen Beziehung seines Planes erkannt, und dadurch diesen zur reinen Geistigkeit verklärt. Eine solche Verän- derung im Plane Jesu soll namentlich daraus hervorgehen, daſs über sein erstes Auftreten ebensoviel Heiterkeit, als über die spätere Zeit seines Wirkens Wehmuth ausgegos- sen sei, daſs an die Stelle des angenehmen Jahrs des Herrn, das er Anfangs verkündete, hernach das Wehe habe tre- ten müssen, und daſs er selbst über Jerusalem gesagt ha- be, er habe es zu retten gedacht, nun aber werde es, auch politisch, untergehen. Da jedoch die Evangelisten diese beiden angeblichen Perioden nicht auseinanderhalten, sondern g[e]rade die zwei für das Politische im Plane Jesu gewichtigsten Data, die Verheiſsung des Sitzens auf Thro- nen und den Einzug, in die lezte Zeit des Lebens Jesu stellen: so könnte zwar, wie oben in Bezug auf das Ver- hältniſs Jesu zur messianischen Idee überhaupt, so auch
2)Paulus, Leben Jesu 1, b. S. 85. 94. 106 ff; Venturini, 2, S. 310 f. Hase, Leben Jesu §§. 68. 84. In der so eben erschie- nenen zweiten Auflage, §§. 49. 50. (vrgl. die theol. Streit- schriften, S. 61 ff.) hat Hase diese Ansicht, wiewohl ungern, zurückgenommen.
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Zweiter Abschnitt.
Stellen durch hermeneutische Künste zu entkräften. Daſs
Beides gleich einseitig sei, hat man neuerlich anerkannt,
und die Nothwendigkeit einer Ausgleichung eingesehen.
Diese hat man vornehmlich so versucht, daſs man eine
frühere und eine spätere Gestaltung des Planes Jesu unter-
schied 2). Obgleich, hat man gesagt, sittliche Besserung
und religiöse Erhebung seines Volkes von jeher sein Haupt-
zweck gewesen sei, so habe er doch zu Anfang seines öf-
fentlichen Wirkens die Hoffnung gehegt, vermittelst dieser
innern Wiedergeburt auch die äussere Herrlichkeit der
Theokratie zu erneuern, wenn er von seiner Nation als
Messias anerkannt nnd dadurch zugleich als die höchste
Staatsgewalt constituirt würde; erst als diese Hoffnung fehl-
geschlagen, habe er hierin die göttliche Verwerfung jeder
politischen Beziehung seines Planes erkannt, und dadurch
diesen zur reinen Geistigkeit verklärt. Eine solche Verän-
derung im Plane Jesu soll namentlich daraus hervorgehen,
daſs über sein erstes Auftreten ebensoviel Heiterkeit, als
über die spätere Zeit seines Wirkens Wehmuth ausgegos-
sen sei, daſs an die Stelle des angenehmen Jahrs des Herrn,
das er Anfangs verkündete, hernach das Wehe habe tre-
ten müssen, und daſs er selbst über Jerusalem gesagt ha-
be, er habe es zu retten gedacht, nun aber werde es,
auch politisch, untergehen. Da jedoch die Evangelisten
diese beiden angeblichen Perioden nicht auseinanderhalten,
sondern gerade die zwei für das Politische im Plane Jesu
gewichtigsten Data, die Verheiſsung des Sitzens auf Thro-
nen und den Einzug, in die lezte Zeit des Lebens Jesu
stellen: so könnte zwar, wie oben in Bezug auf das Ver-
hältniſs Jesu zur messianischen Idee überhaupt, so auch
2) Paulus, Leben Jesu 1, b. S. 85. 94. 106 ff; Venturini, 2, S.
310 f. Hase, Leben Jesu §§. 68. 84. In der so eben erschie-
nenen zweiten Auflage, §§. 49. 50. (vrgl. die theol. Streit-
schriften, S. 61 ff.) hat Hase diese Ansicht, wiewohl ungern,
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 492. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/516>, abgerufen am 22.11.2024.
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