welche er pro tou ton kosmon einai bei ihm gehabt habe, von Verleihung einer Jesu von jeher zugedachten Herr- lichkeit verstanden werden. Hören wir nun aber noch Joh. 6, 62. Jesum von einem anabainein des Menschensohns, [o]pou en to proteron sprechen: so ist diess theils für sich, theils in Verbindung mit den übrigen Stellen eine zu bestimmte Bezeichnung eines früheren Seins, als dass wir dieses für ein blos ideales halten könnten.
Man hat nun schon vermuthet, diese Jesu in den Mund gelegten Aussprüche, oder wenigstens ihre Deutung auf eine reale Präexistenz, rühren blos von dem Verfasser des vierten Evangeliums her 2), mit dessen im Prologe dar- gelegten Ansichten sie allerdings ganz zusammenstimmen; denn war der logos en arkhe pros ton theon: so konnte Jesus, in welchem er sarx egeneto, im realsten Sinne sich eine Präexistenz vor Abraham, eine Herrlichkeit bei'm Vater vor Grundlegung der Welt zuschreiben. Zu jener Ansicht sind wir aber nur in dem Falle berechtigt, wenn sich weder zeigen lässt, dass die Idee von einer Präexi- stenz des Messias zu Jesu Zeit unter den palästinischen Juden vorhanden war, noch auch wahrscheinlich machen, dass Jesus unabhängig von Zeit- und Volksvorstellungen auf eine solche Ansicht von sich selbst gekommen sei.
Dass nun das Leztere stattgefunden, und Jesus aus eigener vermeintlicher Erinnerung von seinem vormensch- lichen und vorweltlichen Zustand gesprochen, diese An- nahme hiesse das gesunde menschliche Bewusstsein Jesu zerstören 3) und ihn der Schwärmerei zeihen, von wel- cher er sonst sich frei zeigt. Eine Basis zu dergleichen Zeitvorstellungen aber könnte man, was das A. T. be- trifft, etwa in der angeführten Danielischen Beschreibung von dem in den Wolken des Himmels kommenden Men-
2)Bretschneider, Probabilia, S. 59.
3) Vergl. Schleiermacher's Glaubenslehre, 2, S. 99.
Zweiter Abschnitt.
welche er πρὸ τοῦ τὸν κόσμον εἶναι bei ihm gehabt habe, von Verleihung einer Jesu von jeher zugedachten Herr- lichkeit verstanden werden. Hören wir nun aber noch Joh. 6, 62. Jesum von einem ἀναβαίνειν des Menschensohns, [ὅ]ποῦ ἠν τὸ πρότερον sprechen: so ist dieſs theils für sich, theils in Verbindung mit den übrigen Stellen eine zu bestimmte Bezeichnung eines früheren Seins, als daſs wir dieses für ein blos ideales halten könnten.
Man hat nun schon vermuthet, diese Jesu in den Mund gelegten Aussprüche, oder wenigstens ihre Deutung auf eine reale Präexistenz, rühren blos von dem Verfasser des vierten Evangeliums her 2), mit dessen im Prologe dar- gelegten Ansichten sie allerdings ganz zusammenstimmen; denn war der λόγος ἐν ἀρχῇ πρὸς τον ϑεὸν: so konnte Jesus, in welchem er σὰρξ ἐγένετο, im realsten Sinne sich eine Präexistenz vor Abraham, eine Herrlichkeit bei'm Vater vor Grundlegung der Welt zuschreiben. Zu jener Ansicht sind wir aber nur in dem Falle berechtigt, wenn sich weder zeigen läſst, daſs die Idee von einer Präexi- stenz des Messias zu Jesu Zeit unter den palästinischen Juden vorhanden war, noch auch wahrscheinlich machen, daſs Jesus unabhängig von Zeit- und Volksvorstellungen auf eine solche Ansicht von sich selbst gekommen sei.
Daſs nun das Leztere stattgefunden, und Jesus aus eigener vermeintlicher Erinnerung von seinem vormensch- lichen und vorweltlichen Zustand gesprochen, diese An- nahme hieſse das gesunde menschliche Bewuſstsein Jesu zerstören 3) und ihn der Schwärmerei zeihen, von wel- cher er sonst sich frei zeigt. Eine Basis zu dergleichen Zeitvorstellungen aber könnte man, was das A. T. be- trifft, etwa in der angeführten Danielischen Beschreibung von dem in den Wolken des Himmels kommenden Men-
2)Bretschneider, Probabilia, S. 59.
3) Vergl. Schleiermacher's Glaubenslehre, 2, S. 99.
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Zweiter Abschnitt.
welche er πρὸ τοῦ τὸν κόσμον εἶναι bei ihm gehabt habe,
von Verleihung einer Jesu von jeher zugedachten Herr-
lichkeit verstanden werden. Hören wir nun aber noch Joh.
6, 62. Jesum von einem ἀναβαίνειν des Menschensohns, ὅποῦ
ἠν τὸ πρότερον sprechen: so ist dieſs theils für sich, theils
in Verbindung mit den übrigen Stellen eine zu bestimmte
Bezeichnung eines früheren Seins, als daſs wir dieses für
ein blos ideales halten könnten.
Man hat nun schon vermuthet, diese Jesu in den
Mund gelegten Aussprüche, oder wenigstens ihre Deutung
auf eine reale Präexistenz, rühren blos von dem Verfasser
des vierten Evangeliums her 2), mit dessen im Prologe dar-
gelegten Ansichten sie allerdings ganz zusammenstimmen;
denn war der λόγος ἐν ἀρχῇ πρὸς τον ϑεὸν: so konnte
Jesus, in welchem er σὰρξ ἐγένετο, im realsten Sinne sich
eine Präexistenz vor Abraham, eine Herrlichkeit bei'm
Vater vor Grundlegung der Welt zuschreiben. Zu jener
Ansicht sind wir aber nur in dem Falle berechtigt, wenn
sich weder zeigen läſst, daſs die Idee von einer Präexi-
stenz des Messias zu Jesu Zeit unter den palästinischen
Juden vorhanden war, noch auch wahrscheinlich machen,
daſs Jesus unabhängig von Zeit- und Volksvorstellungen
auf eine solche Ansicht von sich selbst gekommen sei.
Daſs nun das Leztere stattgefunden, und Jesus aus
eigener vermeintlicher Erinnerung von seinem vormensch-
lichen und vorweltlichen Zustand gesprochen, diese An-
nahme hieſse das gesunde menschliche Bewuſstsein Jesu
zerstören 3) und ihn der Schwärmerei zeihen, von wel-
cher er sonst sich frei zeigt. Eine Basis zu dergleichen
Zeitvorstellungen aber könnte man, was das A. T. be-
trifft, etwa in der angeführten Danielischen Beschreibung
von dem in den Wolken des Himmels kommenden Men-
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3) Vergl. Schleiermacher's Glaubenslehre, 2, S. 99.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 484. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/508>, abgerufen am 22.11.2024.
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