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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Viertes Kapitel. §. 58.
lich einen andern Sinn hatte, als bei jenem, nämlich auf
den kommenden Messias hinzuweisen, aufgetreten ist, --
und hier zu sagen, Jesus habe sich blos aus äusserer Rück-
sicht einstweilen nur für einen Herold des kommenden
Messias ausgegeben, im Stillen aber sich schon selbst für
den Messias gehalten, hiesse ihn einer starken Simulation
zeihen, wogegen weit ungezwungener die Voraussetzung
sich ergiebt, dass Jesus, der zuerst ein Schüler des Täu-
fers war, nach dessen Verhaftung aber als Verkündiger
der metanoia und der nahenden basileia ton ouranon in
seine Fussstapfen trat, Anfangs, ob zwar in liberalerem
und grossartigerem Geist, doch nur dieselbe Stellung zum
Messiasreich wie der Täufer sich gegeben, und erst all-
mählig zu dem Gedanken, selbst der Messias zu sein, sich
erhoben habe. Bei dieser Annahme erst erklären sich
auch die zulezt erwogenen Verbote, namentlich dasjenige,
welches Jesus an das Bekenntniss des Petrus anschloss,
auf genügende Weise, indem hienach Jesus, so oft der
Gedanke, er möchte der Messias sein, durch irgend etwas
bei Andern erregt und ihm von aussen entgegengebracht
wurde, gleichsam erschrak, das laut und bestimmt ausge-
sprochen zu hören, was er bei sich selber kaum zu ver-
muthen wagte, oder worüber er doch erst seit Kurzem
mit sich in's Reine gekommen war. Da indessen die Evan-
gelisten Jesu solche Verbote bisweilen ganz am unrechten
Orte in den Mund legen, wie z. B. Matth. 8, 4. nach ei-
ner im Gedränge des Volks vollbrachten Heilung es nichts
nützen konnte, dem Geheilten die Ausbreitung der Sache
zu verbieten 9): so mag es sein, dass in der evangelischen
Tradition, welche durch das Geheimnissvolle, das in jenem
von Jesu gespielten Incognito lag, sich angezogen fand 10),
die derartigen Fälle unhistorisch vervielfältigt worden sind.

9) S. Fritzsche, S. 309.
10) vrgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 74.

Viertes Kapitel. §. 58.
lich einen andern Sinn hatte, als bei jenem, nämlich auf
den kommenden Messias hinzuweisen, aufgetreten ist, —
und hier zu sagen, Jesus habe sich blos aus äusserer Rück-
sicht einstweilen nur für einen Herold des kommenden
Messias ausgegeben, im Stillen aber sich schon selbst für
den Messias gehalten, hieſse ihn einer starken Simulation
zeihen, wogegen weit ungezwungener die Voraussetzung
sich ergiebt, daſs Jesus, der zuerst ein Schüler des Täu-
fers war, nach dessen Verhaftung aber als Verkündiger
der μετάνοια und der nahenden βασιλεία τῶν οὐρανῶν in
seine Fuſsstapfen trat, Anfangs, ob zwar in liberalerem
und groſsartigerem Geist, doch nur dieselbe Stellung zum
Messiasreich wie der Täufer sich gegeben, und erst all-
mählig zu dem Gedanken, selbst der Messias zu sein, sich
erhoben habe. Bei dieser Annahme erst erklären sich
auch die zulezt erwogenen Verbote, namentlich dasjenige,
welches Jesus an das Bekenntniſs des Petrus anschloſs,
auf genügende Weise, indem hienach Jesus, so oft der
Gedanke, er möchte der Messias sein, durch irgend etwas
bei Andern erregt und ihm von aussen entgegengebracht
wurde, gleichsam erschrak, das laut und bestimmt ausge-
sprochen zu hören, was er bei sich selber kaum zu ver-
muthen wagte, oder worüber er doch erst seit Kurzem
mit sich in's Reine gekommen war. Da indessen die Evan-
gelisten Jesu solche Verbote bisweilen ganz am unrechten
Orte in den Mund legen, wie z. B. Matth. 8, 4. nach ei-
ner im Gedränge des Volks vollbrachten Heilung es nichts
nützen konnte, dem Geheilten die Ausbreitung der Sache
zu verbieten 9): so mag es sein, daſs in der evangelischen
Tradition, welche durch das Geheimniſsvolle, das in jenem
von Jesu gespielten Incognito lag, sich angezogen fand 10),
die derartigen Fälle unhistorisch vervielfältigt worden sind.

9) S. Fritzsche, S. 309.
10) vrgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 74.
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[477/0501] Viertes Kapitel. §. 58. lich einen andern Sinn hatte, als bei jenem, nämlich auf den kommenden Messias hinzuweisen, aufgetreten ist, — und hier zu sagen, Jesus habe sich blos aus äusserer Rück- sicht einstweilen nur für einen Herold des kommenden Messias ausgegeben, im Stillen aber sich schon selbst für den Messias gehalten, hieſse ihn einer starken Simulation zeihen, wogegen weit ungezwungener die Voraussetzung sich ergiebt, daſs Jesus, der zuerst ein Schüler des Täu- fers war, nach dessen Verhaftung aber als Verkündiger der μετάνοια und der nahenden βασιλεία τῶν οὐρανῶν in seine Fuſsstapfen trat, Anfangs, ob zwar in liberalerem und groſsartigerem Geist, doch nur dieselbe Stellung zum Messiasreich wie der Täufer sich gegeben, und erst all- mählig zu dem Gedanken, selbst der Messias zu sein, sich erhoben habe. Bei dieser Annahme erst erklären sich auch die zulezt erwogenen Verbote, namentlich dasjenige, welches Jesus an das Bekenntniſs des Petrus anschloſs, auf genügende Weise, indem hienach Jesus, so oft der Gedanke, er möchte der Messias sein, durch irgend etwas bei Andern erregt und ihm von aussen entgegengebracht wurde, gleichsam erschrak, das laut und bestimmt ausge- sprochen zu hören, was er bei sich selber kaum zu ver- muthen wagte, oder worüber er doch erst seit Kurzem mit sich in's Reine gekommen war. Da indessen die Evan- gelisten Jesu solche Verbote bisweilen ganz am unrechten Orte in den Mund legen, wie z. B. Matth. 8, 4. nach ei- ner im Gedränge des Volks vollbrachten Heilung es nichts nützen konnte, dem Geheilten die Ausbreitung der Sache zu verbieten 9): so mag es sein, daſs in der evangelischen Tradition, welche durch das Geheimniſsvolle, das in jenem von Jesu gespielten Incognito lag, sich angezogen fand 10), die derartigen Fälle unhistorisch vervielfältigt worden sind. 9) S. Fritzsche, S. 309. 10) vrgl. Schleiermacher, über den Lukas, S. 74.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 477. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/501>, abgerufen am 22.11.2024.