Was die beiderseitige Schilderung der Scene betrifft, so hat die Ausführlichkeit der von Lukas gelieferten gegen- über dem Summarischen der von den beiden andern Evan- gelisten gegebenen gewöhnlich das Urtheil zur Folge, dass jene die genauere und richtigere sei 7). Treten wir näher, so zeigt sich die grössere Ausführlichkeit der Erzählung des Lukas zuerst darin, dass er sich nicht begnügt, nur im Allgemeinen eines von Jesu in der Synagoge gehaltenen Vortrags zu gedenken, sondern auch die A. T.liche Stelle angiebt, über welche er gesprochen, und den Anfang der Anwendung, die er von derselben gemacht habe. Die Stelle ist aus Jes. 61, 1. 2., wo der Prophet die Rückkehr aus dem Exil ankündigt; nur die Worte: aposeilai tethraus- m[e]nous en aphesei sind aus Jes. 58, 6. eingeschoben. Dieser Stelle giebt nun Jesus eine messianische Deutung, indem er sie durch seinen Auftritt für erfüllt erklärt. Wie er gerade auf diesen Text gekommen, darüber hat man Ver- schiedenes vermuthet. Da man weiss, dass bei den späte- ren Juden für die einzelnen Sabbate und Feste bestimmte Abschnitte aus der Thorah und den Propheten zum Vor- lesen in den Synagogen bestimmt waren: so vermuthete man, für den damaligen Sabbat oder Festtag sei eben jener Abschnitt aus Jesaias festgesezt gewesen. Und zwar, da die Perikope, aus welcher die Worte aposeilai k. t. l. genommen sind, am grossen Versöhnungsfest gelesen zu werden pflegte: so hat Bengel zu einem Grundpfeiler seiner evangelischen Chronologie die Voraussetzung gemacht, dass die vorliegende Begebenheit am Versöhnungstage vor sich gegangen 8). Allein wenn Jesus an diesem Feste die or- dentliche Vorlesung hielt, so durfte er aus der für das- selbe bestimmten Perikope nicht blos ein paar verlorene Worte einfliessen lassen, und den grösseren Theil der Lek-
7) Ders. ebendas. S. 63 f.
8) Ordo temporum S. 220 ff. ed. 2.
Zweiter Abschnitt.
Was die beiderseitige Schilderung der Scene betrifft, so hat die Ausführlichkeit der von Lukas gelieferten gegen- über dem Summarischen der von den beiden andern Evan- gelisten gegebenen gewöhnlich das Urtheil zur Folge, daſs jene die genauere und richtigere sei 7). Treten wir näher, so zeigt sich die gröſsere Ausführlichkeit der Erzählung des Lukas zuerst darin, daſs er sich nicht begnügt, nur im Allgemeinen eines von Jesu in der Synagoge gehaltenen Vortrags zu gedenken, sondern auch die A. T.liche Stelle angiebt, über welche er gesprochen, und den Anfang der Anwendung, die er von derselben gemacht habe. Die Stelle ist aus Jes. 61, 1. 2., wo der Prophet die Rückkehr aus dem Exil ankündigt; nur die Worte: ἀποςεῖλαι τεϑραυσ- μ[έ]νους ἐν ἀφεσει sind aus Jes. 58, 6. eingeschoben. Dieser Stelle giebt nun Jesus eine messianische Deutung, indem er sie durch seinen Auftritt für erfüllt erklärt. Wie er gerade auf diesen Text gekommen, darüber hat man Ver- schiedenes vermuthet. Da man weiſs, daſs bei den späte- ren Juden für die einzelnen Sabbate und Feste bestimmte Abschnitte aus der Thorah und den Propheten zum Vor- lesen in den Synagogen bestimmt waren: so vermuthete man, für den damaligen Sabbat oder Festtag sei eben jener Abschnitt aus Jesaias festgesezt gewesen. Und zwar, da die Perikope, aus welcher die Worte ἀποςεῖλαι κ. τ. λ. genommen sind, am groſsen Versöhnungsfest gelesen zu werden pflegte: so hat Bengel zu einem Grundpfeiler seiner evangelischen Chronologie die Voraussetzung gemacht, daſs die vorliegende Begebenheit am Versöhnungstage vor sich gegangen 8). Allein wenn Jesus an diesem Feste die or- dentliche Vorlesung hielt, so durfte er aus der für das- selbe bestimmten Perikope nicht blos ein paar verlorene Worte einflieſsen lassen, und den gröſseren Theil der Lek-
7) Ders. ebendas. S. 63 f.
8) Ordo temporum S. 220 ff. ed. 2.
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Zweiter Abschnitt.
Was die beiderseitige Schilderung der Scene betrifft,
so hat die Ausführlichkeit der von Lukas gelieferten gegen-
über dem Summarischen der von den beiden andern Evan-
gelisten gegebenen gewöhnlich das Urtheil zur Folge, daſs
jene die genauere und richtigere sei 7). Treten wir näher,
so zeigt sich die gröſsere Ausführlichkeit der Erzählung
des Lukas zuerst darin, daſs er sich nicht begnügt, nur
im Allgemeinen eines von Jesu in der Synagoge gehaltenen
Vortrags zu gedenken, sondern auch die A. T.liche Stelle
angiebt, über welche er gesprochen, und den Anfang der
Anwendung, die er von derselben gemacht habe. Die Stelle
ist aus Jes. 61, 1. 2., wo der Prophet die Rückkehr aus
dem Exil ankündigt; nur die Worte: ἀποςεῖλαι τεϑραυσ-
μένους ἐν ἀφεσει sind aus Jes. 58, 6. eingeschoben. Dieser
Stelle giebt nun Jesus eine messianische Deutung, indem
er sie durch seinen Auftritt für erfüllt erklärt. Wie er
gerade auf diesen Text gekommen, darüber hat man Ver-
schiedenes vermuthet. Da man weiſs, daſs bei den späte-
ren Juden für die einzelnen Sabbate und Feste bestimmte
Abschnitte aus der Thorah und den Propheten zum Vor-
lesen in den Synagogen bestimmt waren: so vermuthete
man, für den damaligen Sabbat oder Festtag sei eben jener
Abschnitt aus Jesaias festgesezt gewesen. Und zwar, da
die Perikope, aus welcher die Worte ἀποςεῖλαι κ. τ. λ.
genommen sind, am groſsen Versöhnungsfest gelesen zu
werden pflegte: so hat Bengel zu einem Grundpfeiler seiner
evangelischen Chronologie die Voraussetzung gemacht, daſs
die vorliegende Begebenheit am Versöhnungstage vor sich
gegangen 8). Allein wenn Jesus an diesem Feste die or-
dentliche Vorlesung hielt, so durfte er aus der für das-
selbe bestimmten Perikope nicht blos ein paar verlorene
Worte einflieſsen lassen, und den gröſseren Theil der Lek-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 450. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/474>, abgerufen am 22.11.2024.
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