Eine nothwendige Voraussetzung bei dieser Eichhor- nisch-Paulusschen Auffassung der biblischen Geschichte ist, dass die Urkunden derselben, die A. und N. T.lichen Schriften, sehr genau und treu, also auch sehr bald nach den erzählten Begebenheiten, wo möglich von Augenzeu- gen, verfasst sein müssen. Denn soll sich in einer Erzäh- lung das ursprüngliche Faktum von dem beigemischten Urtheil unterscheiden lassen: so muss die Relation noch sehr rein und ursprünglich sein; bei einer später entstan- denen, minder urkundlichen hätte ich ja keine Bürgschaft, ob nicht auch das, was ich für den thatsächlichen Kern halte, nur der Meinung und Sage angehöre? Daher suchte Eichhorn die Abfassung, namentlich auch der A. T.lichen Schriften so nahe als möglich zu der Zeit der Begeben- heiten hinanzurücken, wobei ihm und den mit ihm gleichdenkenden Theologen selbst das Widernatürlichste, wie z. B. die Voraussetzung der Abfassung des Penta- teuchs auf dem Zug durch die Wüste 9), nicht zu hart
bemerklich machte (durch seine Briefe über die Bibel im Volkstone, seit 1782), so fand er einen Nacharbeiter ähnli- cher Art in Venturini, dem Verfasser der natürlichen Ge- schichte des grossen Propheten von Nazaret (seit 1800), ein Werk, dessen spätere Theile auch im Einzelnen nach dem Paulusschen Commentar gearbeitet sind. Es ist schief, wenn man diese beiden Schriften (wie Hase, Leben Jesu, §. 26. Anm. 5.) mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten zusammen- stellt; sie gehören wesentlich zu der Paulusschen Richtung, denn ihre Tendenz geht gleicherweise dahin, im Leben Jesu Alles als natürlich darzustellen, ohne doch seiner Würde als weisen und edlen Mannes etwas zu vergeben; ihr Ro- manhaftes aber verhält sich zu der Darstellung von Paulus nur als eine noch grössere Willkühr in Einschiebung selbst- erdachter Mittelursachen. Namentlich Bahrdt erklärt sich ausdrücklich gegen den Fragmentisten, Briefe u. s. w. 1tes Bändchen, 14ter Brief.
9) Allgem. Biblioth. Bd. 1. S. 64.
Einleitung. §. 6.
Eine nothwendige Voraussetzung bei dieser Eichhor- nisch-Paulusschen Auffassung der biblischen Geschichte ist, daſs die Urkunden derselben, die A. und N. T.lichen Schriften, sehr genau und treu, also auch sehr bald nach den erzählten Begebenheiten, wo möglich von Augenzeu- gen, verfaſst sein müssen. Denn soll sich in einer Erzäh- lung das ursprüngliche Faktum von dem beigemischten Urtheil unterscheiden lassen: so muſs die Relation noch sehr rein und ursprünglich sein; bei einer später entstan- denen, minder urkundlichen hätte ich ja keine Bürgschaft, ob nicht auch das, was ich für den thatsächlichen Kern halte, nur der Meinung und Sage angehöre? Daher suchte Eichhorn die Abfassung, namentlich auch der A. T.lichen Schriften so nahe als möglich zu der Zeit der Begeben- heiten hinanzurücken, wobei ihm und den mit ihm gleichdenkenden Theologen selbst das Widernatürlichste, wie z. B. die Voraussetzung der Abfassung des Penta- teuchs auf dem Zug durch die Wüste 9), nicht zu hart
bemerklich machte (durch seine Briefe über die Bibel im Volkstone, seit 1782), so fand er einen Nacharbeiter ähnli- cher Art in Venturini, dem Verfasser der natürlichen Ge- schichte des grossen Propheten von Nazaret (seit 1800), ein Werk, dessen spätere Theile auch im Einzelnen nach dem Paulusschen Commentar gearbeitet sind. Es ist schief, wenn man diese beiden Schriften (wie Hase, Leben Jesu, §. 26. Anm. 5.) mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten zusammen- stellt; sie gehören wesentlich zu der Paulusschen Richtung, denn ihre Tendenz geht gleicherweise dahin, im Leben Jesu Alles als natürlich darzustellen, ohne doch seiner Würde als weisen und edlen Mannes etwas zu vergeben; ihr Ro- manhaftes aber verhält sich zu der Darstellung von Paulus nur als eine noch grössere Willkühr in Einschiebung selbst- erdachter Mittelursachen. Namentlich Bahrdt erklärt sich ausdrücklich gegen den Fragmentisten, Briefe u. s. w. 1tes Bändchen, 14ter Brief.
9) Allgem. Biblioth. Bd. 1. S. 64.
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Einleitung. §. 6.
Eine nothwendige Voraussetzung bei dieser Eichhor-
nisch-Paulusschen Auffassung der biblischen Geschichte
ist, daſs die Urkunden derselben, die A. und N. T.lichen
Schriften, sehr genau und treu, also auch sehr bald nach
den erzählten Begebenheiten, wo möglich von Augenzeu-
gen, verfaſst sein müssen. Denn soll sich in einer Erzäh-
lung das ursprüngliche Faktum von dem beigemischten
Urtheil unterscheiden lassen: so muſs die Relation noch
sehr rein und ursprünglich sein; bei einer später entstan-
denen, minder urkundlichen hätte ich ja keine Bürgschaft,
ob nicht auch das, was ich für den thatsächlichen Kern
halte, nur der Meinung und Sage angehöre? Daher suchte
Eichhorn die Abfassung, namentlich auch der A. T.lichen
Schriften so nahe als möglich zu der Zeit der Begeben-
heiten hinanzurücken, wobei ihm und den mit ihm
gleichdenkenden Theologen selbst das Widernatürlichste,
wie z. B. die Voraussetzung der Abfassung des Penta-
teuchs auf dem Zug durch die Wüste 9), nicht zu hart
8)
9) Allgem. Biblioth. Bd. 1. S. 64.
8) bemerklich machte (durch seine Briefe über die Bibel im
Volkstone, seit 1782), so fand er einen Nacharbeiter ähnli-
cher Art in Venturini, dem Verfasser der natürlichen Ge-
schichte des grossen Propheten von Nazaret (seit 1800), ein
Werk, dessen spätere Theile auch im Einzelnen nach dem
Paulusschen Commentar gearbeitet sind. Es ist schief, wenn
man diese beiden Schriften (wie Hase, Leben Jesu, §. 26.
Anm. 5.) mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten zusammen-
stellt; sie gehören wesentlich zu der Paulusschen Richtung,
denn ihre Tendenz geht gleicherweise dahin, im Leben Jesu
Alles als natürlich darzustellen, ohne doch seiner Würde
als weisen und edlen Mannes etwas zu vergeben; ihr Ro-
manhaftes aber verhält sich zu der Darstellung von Paulus
nur als eine noch grössere Willkühr in Einschiebung selbst-
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ausdrücklich gegen den Fragmentisten, Briefe u. s. w. 1tes
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/46>, abgerufen am 16.07.2024.
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