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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
mahnung gegeben, Gott nicht mehr zu versuchen, wie sie ihn
bei Massa versucht hätten, eine Ermahnung, welche 1. Kor.
10, 9. auch den Mitgliedern des neuen Bundes, doch mehr
mit Anspielung auf 4. Mos. 21, 4. ff. und mit Bezug auf Chri-
stum, gegeben wird. Auch zu dieser besonders schweren
Sünde also, welcher das alte Volk Gottes erlegen war,
musste der Messias gereizt werden, um durch seinen Sieg
über diesen Reiz die Übertretung des Volks gleichsam gut
zu machen. Nun war aber bei dem Volke das als ekpei-
razein Kurion bezeichnete Benehmen durch einen Wasser-
mangel veranlasst, und das Gott Versuchen war ihr Mur-
ren. Diess schien der späteren Sage jenem Ausdruck nicht
völlig zu entsprechen, man sah sich nach etwas Adäqua-
terem um, und kaum konnte von diesem Gesichtspunkt aus
passender gewählt werden, als wie wir es in unsrer Ver-
suchungsgeschichte finden; denn nichts kann in eigent-
licherem Sinne Gott versucht heissen, als wenn auf so toll-
kühne Weise, wie der Satan in seiner zweiten Aufforde-
rung Jesu anmuthet, sein ausserordentlicher Beistand in
Anspruch genommen wird. Was die Veranlassung war,
als Beispiel solcher Vermessenheit gerade das Herabstürzen
vom Tempel namhaft zu machen, das ist dem Satan selbst
in den Mund gelegt. Es fiel nämlich dem Urheber dieses
Zugs der Sage als mögliche Verführung zu einer tollküh-
nen Handlung die Stelle Ps. 91, 11. f. ein, wo dem unter
Jehova's Schutze Stehenden, als welchen er vorzugsweise
den Messias dachte, verheissen ist, die Engel werden ihn
auf den Händen tragen, damit er seinen Fuss an keinen
Stein stosse. Da das airein epi kheiron um das proskoptein
zu vermeiden auf ein Herabstürzen aus der Höhe zu deu-
ten schien, so konnte diess auf die Vorstellung führen, dass
der von Gott beschüzte Messias sich unversehrt von einer
Höhe herabstürzen könne. Von welcher Höhe? darüber
konnte bei dem Messias nicht wohl ein Zweifel sein. Dem
Frommen, und somit auch ihm, dem Haupt aller From-

Zweiter Abschnitt.
mahnung gegeben, Gott nicht mehr zu versuchen, wie sie ihn
bei Massa versucht hätten, eine Ermahnung, welche 1. Kor.
10, 9. auch den Mitgliedern des neuen Bundes, doch mehr
mit Anspielung auf 4. Mos. 21, 4. ff. und mit Bezug auf Chri-
stum, gegeben wird. Auch zu dieser besonders schweren
Sünde also, welcher das alte Volk Gottes erlegen war,
muſste der Messias gereizt werden, um durch seinen Sieg
über diesen Reiz die Übertretung des Volks gleichsam gut
zu machen. Nun war aber bei dem Volke das als ἐκπει-
ράζειν Κύριον bezeichnete Benehmen durch einen Wasser-
mangel veranlaſst, und das Gott Versuchen war ihr Mur-
ren. Dieſs schien der späteren Sage jenem Ausdruck nicht
völlig zu entsprechen, man sah sich nach etwas Adäqua-
terem um, und kaum konnte von diesem Gesichtspunkt aus
passender gewählt werden, als wie wir es in unsrer Ver-
suchungsgeschichte finden; denn nichts kann in eigent-
licherem Sinne Gott versucht heiſsen, als wenn auf so toll-
kühne Weise, wie der Satan in seiner zweiten Aufforde-
rung Jesu anmuthet, sein ausserordentlicher Beistand in
Anspruch genommen wird. Was die Veranlassung war,
als Beispiel solcher Vermessenheit gerade das Herabstürzen
vom Tempel namhaft zu machen, das ist dem Satan selbst
in den Mund gelegt. Es fiel nämlich dem Urheber dieses
Zugs der Sage als mögliche Verführung zu einer tollküh-
nen Handlung die Stelle Ps. 91, 11. f. ein, wo dem unter
Jehova's Schutze Stehenden, als welchen er vorzugsweise
den Messias dachte, verheiſsen ist, die Engel werden ihn
auf den Händen tragen, damit er seinen Fuſs an keinen
Stein stoſse. Da das αἴρειν ἐπὶ χειρῶν um das προσκόπτειν
zu vermeiden auf ein Herabstürzen aus der Höhe zu deu-
ten schien, so konnte dieſs auf die Vorstellung führen, daſs
der von Gott beschüzte Messias sich unversehrt von einer
Höhe herabstürzen könne. Von welcher Höhe? darüber
konnte bei dem Messias nicht wohl ein Zweifel sein. Dem
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[426/0450] Zweiter Abschnitt. mahnung gegeben, Gott nicht mehr zu versuchen, wie sie ihn bei Massa versucht hätten, eine Ermahnung, welche 1. Kor. 10, 9. auch den Mitgliedern des neuen Bundes, doch mehr mit Anspielung auf 4. Mos. 21, 4. ff. und mit Bezug auf Chri- stum, gegeben wird. Auch zu dieser besonders schweren Sünde also, welcher das alte Volk Gottes erlegen war, muſste der Messias gereizt werden, um durch seinen Sieg über diesen Reiz die Übertretung des Volks gleichsam gut zu machen. Nun war aber bei dem Volke das als ἐκπει- ράζειν Κύριον bezeichnete Benehmen durch einen Wasser- mangel veranlaſst, und das Gott Versuchen war ihr Mur- ren. Dieſs schien der späteren Sage jenem Ausdruck nicht völlig zu entsprechen, man sah sich nach etwas Adäqua- terem um, und kaum konnte von diesem Gesichtspunkt aus passender gewählt werden, als wie wir es in unsrer Ver- suchungsgeschichte finden; denn nichts kann in eigent- licherem Sinne Gott versucht heiſsen, als wenn auf so toll- kühne Weise, wie der Satan in seiner zweiten Aufforde- rung Jesu anmuthet, sein ausserordentlicher Beistand in Anspruch genommen wird. Was die Veranlassung war, als Beispiel solcher Vermessenheit gerade das Herabstürzen vom Tempel namhaft zu machen, das ist dem Satan selbst in den Mund gelegt. Es fiel nämlich dem Urheber dieses Zugs der Sage als mögliche Verführung zu einer tollküh- nen Handlung die Stelle Ps. 91, 11. f. ein, wo dem unter Jehova's Schutze Stehenden, als welchen er vorzugsweise den Messias dachte, verheiſsen ist, die Engel werden ihn auf den Händen tragen, damit er seinen Fuſs an keinen Stein stoſse. Da das αἴρειν ἐπὶ χειρῶν um das προσκόπτειν zu vermeiden auf ein Herabstürzen aus der Höhe zu deu- ten schien, so konnte dieſs auf die Vorstellung führen, daſs der von Gott beschüzte Messias sich unversehrt von einer Höhe herabstürzen könne. Von welcher Höhe? darüber konnte bei dem Messias nicht wohl ein Zweifel sein. Dem Frommen, und somit auch ihm, dem Haupt aller From-

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 426. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/450>, abgerufen am 18.05.2024.