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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Zweiter Abschnitt.
vorstellungen suchen, welche namentlich Schleiermacher zum
grossen Schaden des objektiven Werthes seiner neutesta-
mentlichen Kritik, aber freilich zur grossen Erleichterung
des selbstgefälligen Spiels eines subjektiven Scharfsinns,
durchaus vernachlässigt hat.

Aussprüche über den Messias, welche Dichter dem Je-
hova in den Mund gelegt hatten, als wirklich vernehmbar
gewordene himmlische Stimmen zu betrachten, war ganz
im Geiste des späteren Judenthums, welches selbst ausge-
zeichneten Rabbinen nicht selten himmlische Stimmen zu
Theil werden liess 4), und dessen Voraussetzungen vom Mes-
sias die erste Christengemeinde sowohl selbst theilte, als
auch denselben den Juden gegenüber zu genügen suchen
musste. Nun hatte man in der angeführten jesaianischen
Stelle einen göttlichen Ausspruch, in welchem wie mit dem
Finger auf den gegenwärtigen Messias hingewiesen war,
der sich also ganz besonders eignete, als himmlischer Ruf
über denselben aufgefasst zu werden: wie konnte die christ-
liche Sage in die Länge säumen, ein Scene auszubilden, in
welcher diese Worte hörbar vom Himmel herab über ihren
Messias ausgesprochen worden waren? -- Doch eine noch
dringendere Veranlassung, die Sache auf diese Weise zu
gestalten, entdecken wir, wenn wir vergleichen, wie den
Kirchenvätern zufolge in einigen der alten verlorenen Evan-
gelien die Himmelsstimme gelautet hat. Justin giebt sie
nach seinen apomnemoneumata ton aposolon so wieder:
uios mou ei su; ego semeron gegenneka se 5); im Hebräer-
evangelium des Epiphanius stand dieser Ausspruch neben

4) Nach Bava Mezia f. 59, 1. (bei Wetstein S. 427.) berief sich
R. Elieser dafür, dass er die Tradition auf seiner Seite ha-
be, auf ein himmlisches Zeichen. Tum persounit Echo coe-
lestis: quid vobis cum R. Eliesere? nam ubivis secundum
illum obtinet traditio.
5) Dial. c. Tryph. 88.

Zweiter Abschnitt.
vorstellungen suchen, welche namentlich Schleiermacher zum
groſsen Schaden des objektiven Werthes seiner neutesta-
mentlichen Kritik, aber freilich zur groſsen Erleichterung
des selbstgefälligen Spiels eines subjektiven Scharfsinns,
durchaus vernachlässigt hat.

Aussprüche über den Messias, welche Dichter dem Je-
hova in den Mund gelegt hatten, als wirklich vernehmbar
gewordene himmlische Stimmen zu betrachten, war ganz
im Geiste des späteren Judenthums, welches selbst ausge-
zeichneten Rabbinen nicht selten himmlische Stimmen zu
Theil werden lieſs 4), und dessen Voraussetzungen vom Mes-
sias die erste Christengemeinde sowohl selbst theilte, als
auch denselben den Juden gegenüber zu genügen suchen
muſste. Nun hatte man in der angeführten jesaianischen
Stelle einen göttlichen Ausspruch, in welchem wie mit dem
Finger auf den gegenwärtigen Messias hingewiesen war,
der sich also ganz besonders eignete, als himmlischer Ruf
über denselben aufgefaſst zu werden: wie konnte die christ-
liche Sage in die Länge säumen, ein Scene auszubilden, in
welcher diese Worte hörbar vom Himmel herab über ihren
Messias ausgesprochen worden waren? — Doch eine noch
dringendere Veranlassung, die Sache auf diese Weise zu
gestalten, entdecken wir, wenn wir vergleichen, wie den
Kirchenvätern zufolge in einigen der alten verlorenen Evan-
gelien die Himmelsstimme gelautet hat. Justin giebt sie
nach seinen ἀπομνημονεύματα τῶν ἀποςόλων so wieder:
υἱός μου εἶ σύ· ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε 5); im Hebräer-
evangelium des Epiphanius stand dieser Ausspruch neben

4) Nach Bava Mezia f. 59, 1. (bei Wetstein S. 427.) berief sich
R. Elieser dafür, dass er die Tradition auf seiner Seite ha-
be, auf ein himmlisches Zeichen. Tum persounit Echo coe-
lestis: quid vobis cum R. Eliesere? nam ubivis secundum
illum obtinet traditio.
5) Dial. c. Tryph. 88.
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[384/0408] Zweiter Abschnitt. vorstellungen suchen, welche namentlich Schleiermacher zum groſsen Schaden des objektiven Werthes seiner neutesta- mentlichen Kritik, aber freilich zur groſsen Erleichterung des selbstgefälligen Spiels eines subjektiven Scharfsinns, durchaus vernachlässigt hat. Aussprüche über den Messias, welche Dichter dem Je- hova in den Mund gelegt hatten, als wirklich vernehmbar gewordene himmlische Stimmen zu betrachten, war ganz im Geiste des späteren Judenthums, welches selbst ausge- zeichneten Rabbinen nicht selten himmlische Stimmen zu Theil werden lieſs 4), und dessen Voraussetzungen vom Mes- sias die erste Christengemeinde sowohl selbst theilte, als auch denselben den Juden gegenüber zu genügen suchen muſste. Nun hatte man in der angeführten jesaianischen Stelle einen göttlichen Ausspruch, in welchem wie mit dem Finger auf den gegenwärtigen Messias hingewiesen war, der sich also ganz besonders eignete, als himmlischer Ruf über denselben aufgefaſst zu werden: wie konnte die christ- liche Sage in die Länge säumen, ein Scene auszubilden, in welcher diese Worte hörbar vom Himmel herab über ihren Messias ausgesprochen worden waren? — Doch eine noch dringendere Veranlassung, die Sache auf diese Weise zu gestalten, entdecken wir, wenn wir vergleichen, wie den Kirchenvätern zufolge in einigen der alten verlorenen Evan- gelien die Himmelsstimme gelautet hat. Justin giebt sie nach seinen ἀπομνημονεύματα τῶν ἀποςόλων so wieder: υἱός μου εἶ σύ· ἐγὼ σήμερον γεγέννηκά σε 5); im Hebräer- evangelium des Epiphanius stand dieser Ausspruch neben 4) Nach Bava Mezia f. 59, 1. (bei Wetstein S. 427.) berief sich R. Elieser dafür, dass er die Tradition auf seiner Seite ha- be, auf ein himmlisches Zeichen. Tum persounit Echo coe- lestis: quid vobis cum R. Eliesere? nam ubivis secundum illum obtinet traditio. 5) Dial. c. Tryph. 88.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/408>, abgerufen am 23.05.2024.