Johannes; das frühere Nichtgekannthaben dagegen im vier- ten Evangelium als subjektive, und zwar wohlbedachte, Versicherung des Täufers erscheint: so lag es nahe, mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten den Widerspruch auf Rech- nung des Johannes und Jesu in der Art zu schreiben, dass sie in der That zwar sich längst gekannt und verab- redet gehabt, vor den Leuten aber sich das Ansehen gege- ben haben, als wären sie einander bisher fremd gewesen, und legten nun ganz unbefangen der eine von des andern Trefflichkeit Zeugniss ab, um einander in die Hände zu arbeiten 14).
Da man diesen Widerspruch nicht als absichtliche Verstellung auf Johannes und mittelbar auch auf Jesus lie- gen lassen wollte, versuchte man auf exegetischem Wege das Vorhandensein desselben zu leugnen. Das kago ouk edein auton soll nicht heissen: die Person, sondern die Mes- sianität Jesu war mir unbekannt 15). Allerdings, sofern dasjenige, was dem Johannes sofort durch das himmlische Zeichen bekannt gemacht wird, die Messianität Jesu ist (Joh. 1, 33 f.): so kann er unter dem, was ihm bis dahin unbekannt gewesen, nichts Andres als eben diese verstan- den haben, wodurch eine vorangegangene persönliche Be- kanntschaft nicht nothwendig ausgeschlossen würde. Es fragt sich jedoch, ob bei der Art, wie, den Bericht des Mat- thäus und Lukas vorausgesezt, Johannes Jesum gekannt haben müsste, die Bekanntschaft mit seiner Messianität von der mit seiner Person auf solche Weise getrennt werden kann? Soll nämlich Johannes Jesum persönlich gekannt ha-
14) Fragment von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, heraus- gegeben von Lessing, S. 133 ff.
15) So Semler in der Beantwortung des angeführten Fragments z. d. St., ebenso die meisten Neueren, Planck, Geschichte des Christenthums in der Periode seiner Einführung, 1, K. 7. Winer, bibl. Realwörterbuch, 1, S. 691.
Zweiter Abschnitt.
Johannes; das frühere Nichtgekannthaben dagegen im vier- ten Evangelium als subjektive, und zwar wohlbedachte, Versicherung des Täufers erscheint: so lag es nahe, mit dem Wolfenbüttler Fragmentisten den Widerspruch auf Rech- nung des Johannes und Jesu in der Art zu schreiben, daſs sie in der That zwar sich längst gekannt und verab- redet gehabt, vor den Leuten aber sich das Ansehen gege- ben haben, als wären sie einander bisher fremd gewesen, und legten nun ganz unbefangen der eine von des andern Trefflichkeit Zeugniſs ab, um einander in die Hände zu arbeiten 14).
Da man diesen Widerspruch nicht als absichtliche Verstellung auf Johannes und mittelbar auch auf Jesus lie- gen lassen wollte, versuchte man auf exegetischem Wege das Vorhandensein desselben zu leugnen. Das κἀγὼ οὐκ ᾔδειν αὐτὸν soll nicht heissen: die Person, sondern die Mes- sianität Jesu war mir unbekannt 15). Allerdings, sofern dasjenige, was dem Johannes sofort durch das himmlische Zeichen bekannt gemacht wird, die Messianität Jesu ist (Joh. 1, 33 f.): so kann er unter dem, was ihm bis dahin unbekannt gewesen, nichts Andres als eben diese verstan- den haben, wodurch eine vorangegangene persönliche Be- kanntschaft nicht nothwendig ausgeschlossen würde. Es fragt sich jedoch, ob bei der Art, wie, den Bericht des Mat- thäus und Lukas vorausgesezt, Johannes Jesum gekannt haben müſste, die Bekanntschaft mit seiner Messianität von der mit seiner Person auf solche Weise getrennt werden kann? Soll nämlich Johannes Jesum persönlich gekannt ha-
14) Fragment von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, heraus- gegeben von Lessing, S. 133 ff.
15) So Semler in der Beantwortung des angeführten Fragments z. d. St., ebenso die meisten Neueren, Planck, Geschichte des Christenthums in der Periode seiner Einführung, 1, K. 7. Winer, bibl. Realwörterbuch, 1, S. 691.
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Zweiter Abschnitt.
Johannes; das frühere Nichtgekannthaben dagegen im vier-
ten Evangelium als subjektive, und zwar wohlbedachte,
Versicherung des Täufers erscheint: so lag es nahe, mit dem
Wolfenbüttler Fragmentisten den Widerspruch auf Rech-
nung des Johannes und Jesu in der Art zu schreiben,
daſs sie in der That zwar sich längst gekannt und verab-
redet gehabt, vor den Leuten aber sich das Ansehen gege-
ben haben, als wären sie einander bisher fremd gewesen,
und legten nun ganz unbefangen der eine von des andern
Trefflichkeit Zeugniſs ab, um einander in die Hände zu
arbeiten 14).
Da man diesen Widerspruch nicht als absichtliche
Verstellung auf Johannes und mittelbar auch auf Jesus lie-
gen lassen wollte, versuchte man auf exegetischem Wege
das Vorhandensein desselben zu leugnen. Das κἀγὼ οὐκ
ᾔδειν αὐτὸν soll nicht heissen: die Person, sondern die Mes-
sianität Jesu war mir unbekannt 15). Allerdings, sofern
dasjenige, was dem Johannes sofort durch das himmlische
Zeichen bekannt gemacht wird, die Messianität Jesu ist
(Joh. 1, 33 f.): so kann er unter dem, was ihm bis dahin
unbekannt gewesen, nichts Andres als eben diese verstan-
den haben, wodurch eine vorangegangene persönliche Be-
kanntschaft nicht nothwendig ausgeschlossen würde. Es
fragt sich jedoch, ob bei der Art, wie, den Bericht des Mat-
thäus und Lukas vorausgesezt, Johannes Jesum gekannt
haben müſste, die Bekanntschaft mit seiner Messianität von
der mit seiner Person auf solche Weise getrennt werden
kann? Soll nämlich Johannes Jesum persönlich gekannt ha-
14) Fragment von dem Zwecke Jesu und seiner Jünger, heraus-
gegeben von Lessing, S. 133 ff.
15) So Semler in der Beantwortung des angeführten Fragments
z. d. St., ebenso die meisten Neueren, Planck, Geschichte
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/350>, abgerufen am 24.11.2024.
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