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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erstes Kapitel. §. 40.
So würden wir einerseits den grösseren Zeitraum, wel-
chen Johannes vor dem Auftritt Jesu und unverdunkelt
von diesem gewirkt haben muss, gewinnen, und doch hät-
ten unsre Evangelien Recht, wenn sie die Taufe Jesu
scheinbar so bald nach dem Auftritt des Täufers erfolgen
lassen. Allein die Annahme einer solchen längeren Zwi-
schenzeit zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentlichen
Auftritt ist den N. T.lichen Schriftstellern am allermeisten
fremd. Denn die Taufe Jesu betrachten sie, wie aus dem
Herabkommen des Geistes und der Himmelsstimme erhellt,
als Einweihung Jesu zu seinem messianischen Berufe; die
einzige Pause, welche sie nach derselben noch eintreten
lassen, ist das sechswöchige Fasten in der Wüste; nach
diesem aber tritt Jesus, dem Lukas zufolge unmittelbar
(4, 14.), dem Matthäus und Markus zufolge, nachdem der
Täufer, wahrscheinlich übrigens in der Zwischenzeit, in
das Gefängniss gesezt war, in Galiläa auf. Besonders aber
indem Lukas 3, 23. die Taufe Jesu (der wahrscheinlichsten
Auslegung zufolge) als sein arkhesthai, seinen Amtsantritt,
bezeichnet, und A.G. 1, 22. Jesum von dem baptisma
Ioannou an mit seinen Jüngern verkehren lässt, so hat er
augenscheinlich Jesu Taufe durch Johannes und seinen öf-
fentlichen Auftritt als Eines und dasselbe und durch keine
Zwischenzeit (ausser jenen 6 Wochen) getrennt sich vor-
gestellt.

Wenn somit den beiden Annahmen, zu welchen wir,
um für die bedeutende Wirksamkeit des Täufers Raum zu
gewinnen, geneigt sein müssen, dass Jesus entweder spä-
ter zu seiner Taufe sich begeben, oder dass er noch län-
gere Zeit, nachdem er getauft war, seinen öffentlichen
Auftritt verzögert habe, die evangelische Darstellung ent-
schieden in den Weg tritt: so sind sie uns hiedurch doch
nur so lange verboten, bis wir nachzuweisen im Stande
sind, was, auch ohne historische Gründe, die N. T.lichen
Schriftsteller zu einer solchen Darstellung veranlassen

Erstes Kapitel. §. 40.
So würden wir einerseits den gröſseren Zeitraum, wel-
chen Johannes vor dem Auftritt Jesu und unverdunkelt
von diesem gewirkt haben muſs, gewinnen, und doch hät-
ten unsre Evangelien Recht, wenn sie die Taufe Jesu
scheinbar so bald nach dem Auftritt des Täufers erfolgen
lassen. Allein die Annahme einer solchen längeren Zwi-
schenzeit zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentlichen
Auftritt ist den N. T.lichen Schriftstellern am allermeisten
fremd. Denn die Taufe Jesu betrachten sie, wie aus dem
Herabkommen des Geistes und der Himmelsstimme erhellt,
als Einweihung Jesu zu seinem messianischen Berufe; die
einzige Pause, welche sie nach derselben noch eintreten
lassen, ist das sechswöchige Fasten in der Wüste; nach
diesem aber tritt Jesus, dem Lukas zufolge unmittelbar
(4, 14.), dem Matthäus und Markus zufolge, nachdem der
Täufer, wahrscheinlich übrigens in der Zwischenzeit, in
das Gefängniſs gesezt war, in Galiläa auf. Besonders aber
indem Lukas 3, 23. die Taufe Jesu (der wahrscheinlichsten
Auslegung zufolge) als sein ἄρχεσϑαι, seinen Amtsantritt,
bezeichnet, und A.G. 1, 22. Jesum von dem βάπτισμα
Ἰωάννου an mit seinen Jüngern verkehren läſst, so hat er
augenscheinlich Jesu Taufe durch Johannes und seinen öf-
fentlichen Auftritt als Eines und dasselbe und durch keine
Zwischenzeit (ausser jenen 6 Wochen) getrennt sich vor-
gestellt.

Wenn somit den beiden Annahmen, zu welchen wir,
um für die bedeutende Wirksamkeit des Täufers Raum zu
gewinnen, geneigt sein müssen, daſs Jesus entweder spä-
ter zu seiner Taufe sich begeben, oder daſs er noch län-
gere Zeit, nachdem er getauft war, seinen öffentlichen
Auftritt verzögert habe, die evangelische Darstellung ent-
schieden in den Weg tritt: so sind sie uns hiedurch doch
nur so lange verboten, bis wir nachzuweisen im Stande
sind, was, auch ohne historische Gründe, die N. T.lichen
Schriftsteller zu einer solchen Darstellung veranlassen

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[317/0341] Erstes Kapitel. §. 40. So würden wir einerseits den gröſseren Zeitraum, wel- chen Johannes vor dem Auftritt Jesu und unverdunkelt von diesem gewirkt haben muſs, gewinnen, und doch hät- ten unsre Evangelien Recht, wenn sie die Taufe Jesu scheinbar so bald nach dem Auftritt des Täufers erfolgen lassen. Allein die Annahme einer solchen längeren Zwi- schenzeit zwischen der Taufe Jesu und seinem öffentlichen Auftritt ist den N. T.lichen Schriftstellern am allermeisten fremd. Denn die Taufe Jesu betrachten sie, wie aus dem Herabkommen des Geistes und der Himmelsstimme erhellt, als Einweihung Jesu zu seinem messianischen Berufe; die einzige Pause, welche sie nach derselben noch eintreten lassen, ist das sechswöchige Fasten in der Wüste; nach diesem aber tritt Jesus, dem Lukas zufolge unmittelbar (4, 14.), dem Matthäus und Markus zufolge, nachdem der Täufer, wahrscheinlich übrigens in der Zwischenzeit, in das Gefängniſs gesezt war, in Galiläa auf. Besonders aber indem Lukas 3, 23. die Taufe Jesu (der wahrscheinlichsten Auslegung zufolge) als sein ἄρχεσϑαι, seinen Amtsantritt, bezeichnet, und A.G. 1, 22. Jesum von dem βάπτισμα Ἰωάννου an mit seinen Jüngern verkehren läſst, so hat er augenscheinlich Jesu Taufe durch Johannes und seinen öf- fentlichen Auftritt als Eines und dasselbe und durch keine Zwischenzeit (ausser jenen 6 Wochen) getrennt sich vor- gestellt. Wenn somit den beiden Annahmen, zu welchen wir, um für die bedeutende Wirksamkeit des Täufers Raum zu gewinnen, geneigt sein müssen, daſs Jesus entweder spä- ter zu seiner Taufe sich begeben, oder daſs er noch län- gere Zeit, nachdem er getauft war, seinen öffentlichen Auftritt verzögert habe, die evangelische Darstellung ent- schieden in den Weg tritt: so sind sie uns hiedurch doch nur so lange verboten, bis wir nachzuweisen im Stande sind, was, auch ohne historische Gründe, die N. T.lichen Schriftsteller zu einer solchen Darstellung veranlassen

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/341>, abgerufen am 18.05.2024.