Indessen hat man mehr oder minder unabhängig von den Angaben des N. Ts. in alter wie in neuer Zeit ver- schiedene Hypothesen über die geistige Entwickelung Jesu aufgestellt, welche der Gegensaz der natürlichen und über- natürlichen Ansicht in zwei Hauptklassen zerfallen macht. Indem es nämlich der übernatürlichen Ansicht von Jesu Person darum zu thun sein muss, ihn als völlig einzig in seiner Art, als unabhängig von allen äusseren, menschli- chen Einflüssen, als Auto- und näher Theodidakten hinzu- stellen: so muss sie nicht allein jede Vermuthung, als hätte er etwas von Andern entlehnt und gelernt, entschieden zu- rückweisen, und daher die Schwierigkeiten, welche der natürlichen Ausbildung Jesu sich in den Weg stellten, in möglichst grellem Lichte malen 6): sondern, um desto si- cherer jedes Empfangen auszuschliessen, musste man auf diesem Standpunkte geneigt sein, Jesu eigne Spontaneität in der Art, wie wir sie bei gereiftem Alter in ihm finden, so frühe wie möglich hervortreten zu lassen. Diese Selbst- thätigkeit ist eine doppelte, eine theoretische und eine prak- tische. Was jene Seite, die Einsicht und Erkenntniss be- trifft, so findet sich das Bestreben, diese so frühe wie mög- lich auf selbstständige Weise in Jesu hervortreten zu las- sen, schon in der zulezt betrachteten Erzählung des Lu- kas von dem Tempelbesuch des 12jährigen Knaben; noch mehr in den dort angeführten Schilderungen der Apokry- phen von der Art, wie Jesus schon lange vor dem zwölf- ten Jahr seine Lehrer übersehen habe, da er ja nach ei- nem derselben bereits in der Wiege gesprochen und sich für den Sohn Gottes erklärt haben soll 7). Aber auch die praktische Seite der höheren Selbstthätigkeit, welche Jesu in späteren Jahren eigen gewesen sein soll, nämlich das Wunderthun, versetzen zwar nicht die kanonischen, wohl
6) Wie diess z. B. Reinhard thut, in seinem Plan Jesu.
7) Evang. infant. arab. c. 1. S. 60 f. bei Thilo.
Fünftes Kapitel. §. 39.
Indessen hat man mehr oder minder unabhängig von den Angaben des N. Ts. in alter wie in neuer Zeit ver- schiedene Hypothesen über die geistige Entwickelung Jesu aufgestellt, welche der Gegensaz der natürlichen und über- natürlichen Ansicht in zwei Hauptklassen zerfallen macht. Indem es nämlich der übernatürlichen Ansicht von Jesu Person darum zu thun sein muſs, ihn als völlig einzig in seiner Art, als unabhängig von allen äusseren, menschli- chen Einflüssen, als Auto- und näher Theodidakten hinzu- stellen: so muſs sie nicht allein jede Vermuthung, als hätte er etwas von Andern entlehnt und gelernt, entschieden zu- rückweisen, und daher die Schwierigkeiten, welche der natürlichen Ausbildung Jesu sich in den Weg stellten, in möglichst grellem Lichte malen 6): sondern, um desto si- cherer jedes Empfangen auszuschliessen, muſste man auf diesem Standpunkte geneigt sein, Jesu eigne Spontaneität in der Art, wie wir sie bei gereiftem Alter in ihm finden, so frühe wie möglich hervortreten zu lassen. Diese Selbst- thätigkeit ist eine doppelte, eine theoretische und eine prak- tische. Was jene Seite, die Einsicht und Erkenntniſs be- trifft, so findet sich das Bestreben, diese so frühe wie mög- lich auf selbstständige Weise in Jesu hervortreten zu las- sen, schon in der zulezt betrachteten Erzählung des Lu- kas von dem Tempelbesuch des 12jährigen Knaben; noch mehr in den dort angeführten Schilderungen der Apokry- phen von der Art, wie Jesus schon lange vor dem zwölf- ten Jahr seine Lehrer übersehen habe, da er ja nach ei- nem derselben bereits in der Wiege gesprochen und sich für den Sohn Gottes erklärt haben soll 7). Aber auch die praktische Seite der höheren Selbstthätigkeit, welche Jesu in späteren Jahren eigen gewesen sein soll, nämlich das Wunderthun, versetzen zwar nicht die kanonischen, wohl
6) Wie diess z. B. Reinhard thut, in seinem Plan Jesu.
7) Evang. infant. arab. c. 1. S. 60 f. bei Thilo.
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Fünftes Kapitel. §. 39.
Indessen hat man mehr oder minder unabhängig von
den Angaben des N. Ts. in alter wie in neuer Zeit ver-
schiedene Hypothesen über die geistige Entwickelung Jesu
aufgestellt, welche der Gegensaz der natürlichen und über-
natürlichen Ansicht in zwei Hauptklassen zerfallen macht.
Indem es nämlich der übernatürlichen Ansicht von Jesu
Person darum zu thun sein muſs, ihn als völlig einzig in
seiner Art, als unabhängig von allen äusseren, menschli-
chen Einflüssen, als Auto- und näher Theodidakten hinzu-
stellen: so muſs sie nicht allein jede Vermuthung, als hätte
er etwas von Andern entlehnt und gelernt, entschieden zu-
rückweisen, und daher die Schwierigkeiten, welche der
natürlichen Ausbildung Jesu sich in den Weg stellten, in
möglichst grellem Lichte malen 6): sondern, um desto si-
cherer jedes Empfangen auszuschliessen, muſste man auf
diesem Standpunkte geneigt sein, Jesu eigne Spontaneität
in der Art, wie wir sie bei gereiftem Alter in ihm finden,
so frühe wie möglich hervortreten zu lassen. Diese Selbst-
thätigkeit ist eine doppelte, eine theoretische und eine prak-
tische. Was jene Seite, die Einsicht und Erkenntniſs be-
trifft, so findet sich das Bestreben, diese so frühe wie mög-
lich auf selbstständige Weise in Jesu hervortreten zu las-
sen, schon in der zulezt betrachteten Erzählung des Lu-
kas von dem Tempelbesuch des 12jährigen Knaben; noch
mehr in den dort angeführten Schilderungen der Apokry-
phen von der Art, wie Jesus schon lange vor dem zwölf-
ten Jahr seine Lehrer übersehen habe, da er ja nach ei-
nem derselben bereits in der Wiege gesprochen und sich
für den Sohn Gottes erklärt haben soll 7). Aber auch die
praktische Seite der höheren Selbstthätigkeit, welche Jesu
in späteren Jahren eigen gewesen sein soll, nämlich das
Wunderthun, versetzen zwar nicht die kanonischen, wohl
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7) Evang. infant. arab. c. 1. S. 60 f. bei Thilo.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 301. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/325>, abgerufen am 24.11.2024.
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