Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Fünftes Kapitel. §. 39.
welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt
haben soll, ist ebenso wenig ein Schluss zu gründen, da
eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un-
historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41.
gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre
nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver-
muthen könnte, dass auch Jesus vom zwölften Jahr an ge-
wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be-
nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluss von Ju-
den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen
Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei-
nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen
Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über
die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern 1). Doch
ist auch das ein blosser Schluss aus einer flüchtigen Anga-
be des Lukas, welcher überdiess vielleicht ein zu enges reli-
giöses Band zwischen der Galilaia ton ethnon und Jeru-
salem voraussezt.

Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines
Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni-
schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7,
29., dass Jesus gelehrt habe oukh os oi grammateis, ist nur zu
schliessen, dass er die Methode der Schriftgelehrten nicht
zu der seinigen gemacht, nicht aber, dass er die Bildung
eines grammateus nicht genossen habe. Freilich scheint an-
drerseits aus dem Datum, dass Jesus nicht blos von seinen
Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45.
Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und
von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) Rabbi und
Rabbouni genannt wurde, sondern dass ihm auch der phari-
säische arkhon Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine
Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso-
wenig zu folgen, dass er die schulmässige Bildung eines

1) Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.

Fünftes Kapitel. §. 39.
welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt
haben soll, ist ebenso wenig ein Schluſs zu gründen, da
eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un-
historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41.
gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre
nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver-
muthen könnte, daſs auch Jesus vom zwölften Jahr an ge-
wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be-
nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluſs von Ju-
den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen
Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei-
nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen
Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über
die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern 1). Doch
ist auch das ein bloſser Schluſs aus einer flüchtigen Anga-
be des Lukas, welcher überdieſs vielleicht ein zu enges reli-
giöses Band zwischen der Γαλιλαία τῶν ἐϑνῶν und Jeru-
salem voraussezt.

Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines
Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni-
schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7,
29., daſs Jesus gelehrt habe ούχ ὡς οἱ γραμματεῖς, ist nur zu
schlieſsen, daſs er die Methode der Schriftgelehrten nicht
zu der seinigen gemacht, nicht aber, daſs er die Bildung
eines γραμματεὺς nicht genossen habe. Freilich scheint an-
drerseits aus dem Datum, daſs Jesus nicht blos von seinen
Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45.
Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und
von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) ῥαββὶ und
ῥαββουνὶ genannt wurde, sondern daſs ihm auch der phari-
säische αρχων Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine
Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso-
wenig zu folgen, daſs er die schulmäſsige Bildung eines

1) Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0323" n="299"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Fünftes Kapitel</hi>. §. 39.</fw><lb/>
welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt<lb/>
haben soll, ist ebenso wenig ein Schlu&#x017F;s zu gründen, da<lb/>
eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un-<lb/>
historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41.<lb/>
gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre<lb/>
nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver-<lb/>
muthen könnte, da&#x017F;s auch Jesus vom zwölften Jahr an ge-<lb/>
wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be-<lb/>
nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenflu&#x017F;s von Ju-<lb/>
den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen<lb/>
Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei-<lb/>
nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen<lb/>
Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über<lb/>
die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#k">Paulus</hi>, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.</note>. Doch<lb/>
ist auch das ein blo&#x017F;ser Schlu&#x017F;s aus einer flüchtigen Anga-<lb/>
be des Lukas, welcher überdie&#x017F;s vielleicht ein zu enges reli-<lb/>
giöses Band zwischen der <foreign xml:lang="ell">&#x0393;&#x03B1;&#x03BB;&#x03B9;&#x03BB;&#x03B1;&#x03AF;&#x03B1; &#x03C4;&#x1FF6;&#x03BD; &#x1F10;&#x03D1;&#x03BD;&#x1FF6;&#x03BD;</foreign> und Jeru-<lb/>
salem voraussezt.</p><lb/>
            <p>Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines<lb/>
Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni-<lb/>
schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7,<lb/>
29., da&#x017F;s Jesus gelehrt habe <foreign xml:lang="ell">&#x03BF;&#x03CD;&#x03C7; &#x1F61;&#x03C2; &#x03BF;&#x1F31; &#x03B3;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03C2;</foreign>, ist nur zu<lb/>
schlie&#x017F;sen, da&#x017F;s er die Methode der Schriftgelehrten nicht<lb/>
zu der seinigen gemacht, nicht aber, da&#x017F;s er die Bildung<lb/>
eines &#x03B3;&#x03C1;&#x03B1;&#x03BC;&#x03BC;&#x03B1;&#x03C4;&#x03B5;&#x1F7A;&#x03C2; nicht genossen habe. Freilich scheint an-<lb/>
drerseits aus dem Datum, da&#x017F;s Jesus nicht blos von seinen<lb/>
Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45.<lb/>
Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und<lb/>
von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) <foreign xml:lang="ell">&#x1FE5;&#x03B1;&#x03B2;&#x03B2;&#x1F76;</foreign> und<lb/><foreign xml:lang="ell">&#x1FE5;&#x03B1;&#x03B2;&#x03B2;&#x03BF;&#x03C5;&#x03BD;&#x1F76;</foreign> genannt wurde, sondern da&#x017F;s ihm auch der phari-<lb/>
säische <foreign xml:lang="ell">&#x03B1;&#x03C1;&#x03C7;&#x03C9;&#x03BD;</foreign> Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine<lb/>
Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso-<lb/>
wenig zu folgen, da&#x017F;s er die schulmä&#x017F;sige Bildung eines<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[299/0323] Fünftes Kapitel. §. 39. welche namentlich seine Mutter dabei an den Tag gelegt haben soll, ist ebenso wenig ein Schluſs zu gründen, da eben diese angeblichen Erwartungen und Äusserungen un- historisch sind. Mehr scheint auf die Angabe Luc. 2, 41. gebaut werden zu können, Jesu Eltern seien alle Jahre nach Jerusalem zum Paschafest gereist, wobei man ver- muthen könnte, daſs auch Jesus vom zwölften Jahr an ge- wöhnlich mitgereist sein, und die treffliche Gelegenheit be- nüzt haben werde, sich unter dem Zusammenfluſs von Ju- den und Judengenossen aus allen Ländern und von allen Gesinnungen und Ansichten auszubilden, den Zustand sei- nes Volkes, und die falschen Grundsätze der pharisäischen Leiter desselben kennen zu lernen, und seinen Blick über die engen Grenzen Palästina's hinaus zu erweitern 1). Doch ist auch das ein bloſser Schluſs aus einer flüchtigen Anga- be des Lukas, welcher überdieſs vielleicht ein zu enges reli- giöses Band zwischen der Γαλιλαία τῶν ἐϑνῶν und Jeru- salem voraussezt. Ob und in wie weit Jesus die gelehrte Bildung eines Rabbinen erhalten habe, ist gleichfalls in unsern kanoni- schen Evangelien nicht gesagt. Aus Stellen wie Matth. 7, 29., daſs Jesus gelehrt habe ούχ ὡς οἱ γραμματεῖς, ist nur zu schlieſsen, daſs er die Methode der Schriftgelehrten nicht zu der seinigen gemacht, nicht aber, daſs er die Bildung eines γραμματεὺς nicht genossen habe. Freilich scheint an- drerseits aus dem Datum, daſs Jesus nicht blos von seinen Schülern (Matth. 26, 25. 49. Marc. 9, 5. 11, 21. 14, 45. Joh. 4, 31. 9, 2. 11, 8. 20, 16. vergl. 1, 38. 40. 50.) und von flehenden Hülfsbedürftigen (Marc. 10, 51.) ῥαββὶ und ῥαββουνὶ genannt wurde, sondern daſs ihm auch der phari- säische αρχων Nikodemus (Joh. 3, 2.) und selbst seine Feinde (Joh. 6, 25.) diesen Titel nicht versagten, ebenso- wenig zu folgen, daſs er die schulmäſsige Bildung eines 1) Paulus, exeg. Handb. 1, a, S. 273 ff.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/323
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 299. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/323>, abgerufen am 24.11.2024.