§. 4. Die allegorische Auslegung unter den Christen. Origenes.
Den Christen der ersten Zeit, welche vor der Fest- stellung des christlichen Kanon sich vorwiegend noch des A. T. als heiliger Urkunde bedienten, war eine allegori- sche Auslegung desselben noch weit mehr Bedürfniss, da [s]ie entschiedener als selbst die gebildetsten Juden über den A. T. lichen Standpunkt hinausgeschritten waren. Kein Wunder, dass man fast allgemein in der ersten christli- chen Kirche diese, schon unter den Juden übliche Ausle- gungsweise adoptirte. Am meisten aber bildete sie sich auch unter den Christen wieder in Alexandrien aus, wo sie vornehmlich an den Namen des Origenes geknüpft erscheint. Wenn Origenes überhaupt nach seiner anthro- pologischen Trichotomie der Schrift einen dreifachen Sinn zuschrieb, einen buchstäblichen als den leiblichen, einen moralischen als den psychischen und einen mystischen als den pneumatischen 1): so lässt er in der Regel zwar alle drei Arten des Sinnes nebeneinander stattfinden, in einzel- nen Fällen aber soll die buchstäbliche Auffassung auch gar keinen oder nur einen verkehrten Sinn geben, um nur de- sto entschiedener den Leser zur Entdeckung des mystischen Gehaltes hinzutreiben 2). Namentlich in Bezug auf den geschichtlichen Inhalt des A. T. glaubt Origenes mit Phi- lo auf manche skandala und proskommata zu stossen, auf Erzählungen von Begebenheiten, welche so nicht gesche- hen, auf Gesetze und Verordnungen, welche so nicht ge- geben sein konnten 3). Nicht selten erinnert er bei
1) Homil. 5. in Levit. §. 5.
2) De principp. L. 4. §. 20: pasa men (graphe) ekhei to pneuma- tikon, ou pasa de to somatikon. Comm. in Joann. Tom. 10, §. 4: -- sozomenou pollakis tou alethous pneumatikou en to somatiko, os an eipoi tis, pseudei.
3) De principp. 4, 15: sunuphenen e graphe te isoria to me
Einleitung. §. 4.
§. 4. Die allegorische Auslegung unter den Christen. Origenes.
Den Christen der ersten Zeit, welche vor der Fest- stellung des christlichen Kanon sich vorwiegend noch des A. T. als heiliger Urkunde bedienten, war eine allegori- sche Auslegung desselben noch weit mehr Bedürfniſs, da [s]ie entschiedener als selbst die gebildetsten Juden über den A. T. lichen Standpunkt hinausgeschritten waren. Kein Wunder, daſs man fast allgemein in der ersten christli- chen Kirche diese, schon unter den Juden übliche Ausle- gungsweise adoptirte. Am meisten aber bildete sie sich auch unter den Christen wieder in Alexandrien aus, wo sie vornehmlich an den Namen des Origenes geknüpft erscheint. Wenn Origenes überhaupt nach seiner anthro- pologischen Trichotomie der Schrift einen dreifachen Sinn zuschrieb, einen buchstäblichen als den leiblichen, einen moralischen als den psychischen und einen mystischen als den pneumatischen 1): so läſst er in der Regel zwar alle drei Arten des Sinnes nebeneinander stattfinden, in einzel- nen Fällen aber soll die buchstäbliche Auffassung auch gar keinen oder nur einen verkehrten Sinn geben, um nur de- sto entschiedener den Leser zur Entdeckung des mystischen Gehaltes hinzutreiben 2). Namentlich in Bezug auf den geschichtlichen Inhalt des A. T. glaubt Origenes mit Phi- lo auf manche σκάνδαλα und προσκόμματα zu stoſsen, auf Erzählungen von Begebenheiten, welche so nicht gesche- hen, auf Gesetze und Verordnungen, welche so nicht ge- geben sein konnten 3). Nicht selten erinnert er bei
3) De principp. 4, 15: συνύφῃνεν ἡ γραφὴ τῇ ἱςορίᾳ τὸ μη
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0030"n="6"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Einleitung</hi>. §. 4.</fw><lb/><divn="2"><head>§. 4.<lb/>
Die allegorische Auslegung unter den Christen. <hirendition="#k">Origenes</hi>.</head><lb/><p>Den Christen der ersten Zeit, welche vor der Fest-<lb/>
stellung des christlichen Kanon sich vorwiegend noch des<lb/>
A. T. als heiliger Urkunde bedienten, war eine allegori-<lb/>
sche Auslegung desselben noch weit mehr Bedürfniſs, da<lb/><supplied>s</supplied>ie entschiedener als selbst die gebildetsten Juden über den<lb/>
A. T. lichen Standpunkt hinausgeschritten waren. Kein<lb/>
Wunder, daſs man fast allgemein in der ersten christli-<lb/>
chen Kirche diese, schon unter den Juden übliche Ausle-<lb/>
gungsweise adoptirte. Am meisten aber bildete sie sich<lb/>
auch unter den Christen wieder in Alexandrien aus, wo<lb/>
sie vornehmlich an den Namen des <hirendition="#k">Origenes</hi> geknüpft<lb/>
erscheint. Wenn Origenes überhaupt nach seiner anthro-<lb/>
pologischen Trichotomie der Schrift einen dreifachen Sinn<lb/>
zuschrieb, einen buchstäblichen als den leiblichen, einen<lb/>
moralischen als den psychischen und einen mystischen als<lb/>
den pneumatischen <noteplace="foot"n="1)">Homil. 5. in Levit. §. 5.</note>: so läſst er in der Regel zwar alle<lb/>
drei Arten des Sinnes nebeneinander stattfinden, in einzel-<lb/>
nen Fällen aber soll die buchstäbliche Auffassung auch gar<lb/>
keinen oder nur einen verkehrten Sinn geben, um nur de-<lb/>
sto entschiedener den Leser zur Entdeckung des mystischen<lb/>
Gehaltes hinzutreiben <noteplace="foot"n="2)">De principp. L. 4. §. 20: <foreignxml:lang="ell">πᾶσαμὲν (γραφὴ) ἔχειτόπνευμα-<lb/>τικὸν, οὐπᾶσαδὲτὸσωματικόν</foreign>. Comm. in Joann. Tom.<lb/>
10, §. 4: —<foreignxml:lang="ell">σωζομένουπολλάκιςτοῦἀληϑοῦςπνευματικοῦἐν<lb/>τῷσωματικῷ, ὡςἂνεἴποιτις, ψεύδει</foreign>.</note>. Namentlich in Bezug auf den<lb/>
geschichtlichen Inhalt des A. T. glaubt Origenes mit Phi-<lb/>
lo auf manche <foreignxml:lang="ell">σκάνδαλα</foreign> und προσκόμματα zu stoſsen, auf<lb/>
Erzählungen von Begebenheiten, welche so nicht gesche-<lb/>
hen, auf Gesetze und Verordnungen, welche so nicht ge-<lb/>
geben sein konnten <notexml:id="seg2pn_1_1"next="#seg2pn_1_2"place="foot"n="3)">De principp. 4, 15: <foreignxml:lang="ell">συνύφῃνενἡγραφὴτῇἱςορίᾳτὸμη</foreign></note>. Nicht selten erinnert er bei<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[6/0030]
Einleitung. §. 4.
§. 4.
Die allegorische Auslegung unter den Christen. Origenes.
Den Christen der ersten Zeit, welche vor der Fest-
stellung des christlichen Kanon sich vorwiegend noch des
A. T. als heiliger Urkunde bedienten, war eine allegori-
sche Auslegung desselben noch weit mehr Bedürfniſs, da
sie entschiedener als selbst die gebildetsten Juden über den
A. T. lichen Standpunkt hinausgeschritten waren. Kein
Wunder, daſs man fast allgemein in der ersten christli-
chen Kirche diese, schon unter den Juden übliche Ausle-
gungsweise adoptirte. Am meisten aber bildete sie sich
auch unter den Christen wieder in Alexandrien aus, wo
sie vornehmlich an den Namen des Origenes geknüpft
erscheint. Wenn Origenes überhaupt nach seiner anthro-
pologischen Trichotomie der Schrift einen dreifachen Sinn
zuschrieb, einen buchstäblichen als den leiblichen, einen
moralischen als den psychischen und einen mystischen als
den pneumatischen 1): so läſst er in der Regel zwar alle
drei Arten des Sinnes nebeneinander stattfinden, in einzel-
nen Fällen aber soll die buchstäbliche Auffassung auch gar
keinen oder nur einen verkehrten Sinn geben, um nur de-
sto entschiedener den Leser zur Entdeckung des mystischen
Gehaltes hinzutreiben 2). Namentlich in Bezug auf den
geschichtlichen Inhalt des A. T. glaubt Origenes mit Phi-
lo auf manche σκάνδαλα und προσκόμματα zu stoſsen, auf
Erzählungen von Begebenheiten, welche so nicht gesche-
hen, auf Gesetze und Verordnungen, welche so nicht ge-
geben sein konnten 3). Nicht selten erinnert er bei
1) Homil. 5. in Levit. §. 5.
2) De principp. L. 4. §. 20: πᾶσα μὲν (γραφὴ) ἔχει τό πνευμα-
τικὸν, οὐ πᾶσα δὲ τὸ σωματικόν. Comm. in Joann. Tom.
10, §. 4: — σωζομένου πολλάκις τοῦ ἀληϑοῦς πνευματικοῦ ἐν
τῷ σωματικῷ, ὡς ἂν εἴποι τις, ψεύδει.
3) De principp. 4, 15: συνύφῃνεν ἡ γραφὴ τῇ ἱςορίᾳ τὸ μη
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/30>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.