Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Erster Abschnitt.
eigentliche Heimath zu fassen. Ein solcher Wink wäre
gegeben, wenn Matthäus nach der ägyptischen Reise die
Ansiedelung Josephs in Nazaret dadurch motivirte, dass
er ihm durch die Traumerscheinung sagen liesse: kehret
jezt in das Land Israel zurück, und zwar in euren ur-
sprünglichen Wohnort, Nazaret; denn in Bethlehem habt
ihr nichts mehr zu schaffen, da ja die Weissagung, dass
euer messianisches Kind an diesem Orte geboren werden
sollte, bereits erfüllt ist. Doch weil es ja dem Matthäus
überhaupt um Lokalitäten nicht zu thun sein soll, so wol-
len wir billig sein, und keinen positiven Wink, sondern
nur das Negative von ihm verlangen, dass er uns die Vor-
stellung, Nazaret sei der ursprüngliche Aufenthalt der El-
tern Jesu gewesen, nicht geradezu unmöglich mache. Diese
Forderung wäre dann erfüllt, wenn die Reise der Eltern
Jesu aus Aegypten nach Nazaret geradezu gar nicht moti-
virt, sondern nur gesagt wäre, sie seien auf höhere Wei-
sung in das Land Israel zurückgekehrt und haben sich
nach Nazaret begeben. Freilich wäre es dann auffallend
genug, ohne alle Bevorwortung statt des bisherigen Beth-
lehem auf einmal Nazaret genannt zu finden, was auch
unser Erzähler gefühlt, und ebendesswegen die Veranlas-
sung der Reise nach dem leztgenannten Orte ausführlich
angegeben hat (2, 22. f.). Statt nun aber diess so zu
thun, wie er es nach dem Obigen thun musste, wenn er
mit Lukas Nazaret als den ursprünglichen Wohnort von
Jesu Eltern kannte, thut er es gerade auf die entgegen-
gesezte Art, welche unwidersprechlich zeigt, dass seine
Voraussetzung die umgekehrte von der des Lukas war.
Denn wenn er den aus Aegypten zurückkehrenden Joseph
nur aus Furcht vor Archelaus nicht nach Judäa gehen
lässt: so schreibt er ihm ja eine Geneigtheit zu, sich wie-
der dahin zu begeben, eine Geneigtheit, welche unbegreif-
lich bleibt, wenn ihn nach Bethlehem nur der Schatzungs-
befehl geführt hatte, und einzig unter der Voraussetzung

Erster Abschnitt.
eigentliche Heimath zu fassen. Ein solcher Wink wäre
gegeben, wenn Matthäus nach der ägyptischen Reise die
Ansiedelung Josephs in Nazaret dadurch motivirte, daſs
er ihm durch die Traumerscheinung sagen lieſse: kehret
jezt in das Land Israël zurück, und zwar in euren ur-
sprünglichen Wohnort, Nazaret; denn in Bethlehem habt
ihr nichts mehr zu schaffen, da ja die Weissagung, daſs
euer messianisches Kind an diesem Orte geboren werden
sollte, bereits erfüllt ist. Doch weil es ja dem Matthäus
überhaupt um Lokalitäten nicht zu thun sein soll, so wol-
len wir billig sein, und keinen positiven Wink, sondern
nur das Negative von ihm verlangen, daſs er uns die Vor-
stellung, Nazaret sei der ursprüngliche Aufenthalt der El-
tern Jesu gewesen, nicht geradezu unmöglich mache. Diese
Forderung wäre dann erfüllt, wenn die Reise der Eltern
Jesu aus Aegypten nach Nazaret geradezu gar nicht moti-
virt, sondern nur gesagt wäre, sie seien auf höhere Wei-
sung in das Land Israël zurückgekehrt und haben sich
nach Nazaret begeben. Freilich wäre es dann auffallend
genug, ohne alle Bevorwortung statt des bisherigen Beth-
lehem auf einmal Nazaret genannt zu finden, was auch
unser Erzähler gefühlt, und ebendeſswegen die Veranlas-
sung der Reise nach dem leztgenannten Orte ausführlich
angegeben hat (2, 22. f.). Statt nun aber dieſs so zu
thun, wie er es nach dem Obigen thun muſste, wenn er
mit Lukas Nazaret als den ursprünglichen Wohnort von
Jesu Eltern kannte, thut er es gerade auf die entgegen-
gesezte Art, welche unwidersprechlich zeigt, daſs seine
Voraussetzung die umgekehrte von der des Lukas war.
Denn wenn er den aus Aegypten zurückkehrenden Joseph
nur aus Furcht vor Archelaus nicht nach Judäa gehen
läſst: so schreibt er ihm ja eine Geneigtheit zu, sich wie-
der dahin zu begeben, eine Geneigtheit, welche unbegreif-
lich bleibt, wenn ihn nach Bethlehem nur der Schatzungs-
befehl geführt hatte, und einzig unter der Voraussetzung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0292" n="268"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erster Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
eigentliche Heimath zu fassen. Ein solcher Wink wäre<lb/>
gegeben, wenn Matthäus nach der ägyptischen Reise die<lb/>
Ansiedelung Josephs in Nazaret dadurch motivirte, da&#x017F;s<lb/>
er ihm durch die Traumerscheinung sagen lie&#x017F;se: kehret<lb/>
jezt in das Land Israël zurück, und zwar in euren ur-<lb/>
sprünglichen Wohnort, Nazaret; denn in Bethlehem habt<lb/>
ihr nichts mehr zu schaffen, da ja die Weissagung, da&#x017F;s<lb/>
euer messianisches Kind an diesem Orte geboren werden<lb/>
sollte, bereits erfüllt ist. Doch weil es ja dem Matthäus<lb/>
überhaupt um Lokalitäten nicht zu thun sein soll, so wol-<lb/>
len wir billig sein, und keinen positiven Wink, sondern<lb/>
nur das Negative von ihm verlangen, da&#x017F;s er uns die Vor-<lb/>
stellung, Nazaret sei der ursprüngliche Aufenthalt der El-<lb/>
tern Jesu gewesen, nicht geradezu unmöglich mache. Diese<lb/>
Forderung wäre dann erfüllt, wenn die Reise der Eltern<lb/>
Jesu aus Aegypten nach Nazaret geradezu gar nicht moti-<lb/>
virt, sondern nur gesagt wäre, sie seien auf höhere Wei-<lb/>
sung in das Land Israël zurückgekehrt und haben sich<lb/>
nach Nazaret begeben. Freilich wäre es dann auffallend<lb/>
genug, ohne alle Bevorwortung statt des bisherigen Beth-<lb/>
lehem auf einmal Nazaret genannt zu finden, was auch<lb/>
unser Erzähler gefühlt, und ebende&#x017F;swegen die Veranlas-<lb/>
sung der Reise nach dem leztgenannten Orte ausführlich<lb/>
angegeben hat (2, 22. f.). Statt nun aber die&#x017F;s so zu<lb/>
thun, wie er es nach dem Obigen thun mu&#x017F;ste, wenn er<lb/>
mit Lukas Nazaret als den ursprünglichen Wohnort von<lb/>
Jesu Eltern kannte, thut er es gerade auf die entgegen-<lb/>
gesezte Art, welche unwidersprechlich zeigt, da&#x017F;s seine<lb/>
Voraussetzung die umgekehrte von der des Lukas war.<lb/>
Denn wenn er den aus Aegypten zurückkehrenden Joseph<lb/>
nur aus Furcht vor Archelaus nicht nach Judäa gehen<lb/>&#x017F;st: so schreibt er ihm ja eine Geneigtheit zu, sich wie-<lb/>
der dahin zu begeben, eine Geneigtheit, welche unbegreif-<lb/>
lich bleibt, wenn ihn nach Bethlehem nur der Schatzungs-<lb/>
befehl geführt hatte, und einzig unter der Voraussetzung<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268/0292] Erster Abschnitt. eigentliche Heimath zu fassen. Ein solcher Wink wäre gegeben, wenn Matthäus nach der ägyptischen Reise die Ansiedelung Josephs in Nazaret dadurch motivirte, daſs er ihm durch die Traumerscheinung sagen lieſse: kehret jezt in das Land Israël zurück, und zwar in euren ur- sprünglichen Wohnort, Nazaret; denn in Bethlehem habt ihr nichts mehr zu schaffen, da ja die Weissagung, daſs euer messianisches Kind an diesem Orte geboren werden sollte, bereits erfüllt ist. Doch weil es ja dem Matthäus überhaupt um Lokalitäten nicht zu thun sein soll, so wol- len wir billig sein, und keinen positiven Wink, sondern nur das Negative von ihm verlangen, daſs er uns die Vor- stellung, Nazaret sei der ursprüngliche Aufenthalt der El- tern Jesu gewesen, nicht geradezu unmöglich mache. Diese Forderung wäre dann erfüllt, wenn die Reise der Eltern Jesu aus Aegypten nach Nazaret geradezu gar nicht moti- virt, sondern nur gesagt wäre, sie seien auf höhere Wei- sung in das Land Israël zurückgekehrt und haben sich nach Nazaret begeben. Freilich wäre es dann auffallend genug, ohne alle Bevorwortung statt des bisherigen Beth- lehem auf einmal Nazaret genannt zu finden, was auch unser Erzähler gefühlt, und ebendeſswegen die Veranlas- sung der Reise nach dem leztgenannten Orte ausführlich angegeben hat (2, 22. f.). Statt nun aber dieſs so zu thun, wie er es nach dem Obigen thun muſste, wenn er mit Lukas Nazaret als den ursprünglichen Wohnort von Jesu Eltern kannte, thut er es gerade auf die entgegen- gesezte Art, welche unwidersprechlich zeigt, daſs seine Voraussetzung die umgekehrte von der des Lukas war. Denn wenn er den aus Aegypten zurückkehrenden Joseph nur aus Furcht vor Archelaus nicht nach Judäa gehen läſst: so schreibt er ihm ja eine Geneigtheit zu, sich wie- der dahin zu begeben, eine Geneigtheit, welche unbegreif- lich bleibt, wenn ihn nach Bethlehem nur der Schatzungs- befehl geführt hatte, und einzig unter der Voraussetzung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/292
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/292>, abgerufen am 11.05.2024.