Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.Drittes Kapitel. §. 27. zückung der Mutter das Kind, physiologisch erklärbar,gleichsam Antheil genommen habe. So aber stellt der Re- ferent die Sache nicht dar, als ob die Gemüthsbewegung der Mutter die vorausgehende Ursache der Bewegung des Kindes gewesen wäre: sondern die Begeisterung der Mut- ter wird erst nach der Bewegung des Kindes erwähnt, und auch nach V. 44. muss man die Sache so fassen, dass die höhere Anregung umgekehrt vom Kinde aus sich der Mutter mitgetheilt habe, was in jedem Falle etwas Über- natürliches voraussetzt. Aber eben hierin liegt Einiges, was selbst auf supranaturalistischem Boden zum Anstoss gereichen kann; woher es eben kommt, dass auch jene or- thodoxen Ausleger bemüht waren, einer unmittelbar über- natürlichen Anregung der Bewegung des Kindes auszuwei- chen. Wenn wir uns nämlich zwar wohl denken können, wie der göttliche Geist auf den ihm verwandten menschli- chen in unmittelbarer Weise anregend wirke: so lässt sich doch die Vorstellung, wie er an ein Unbegeistetes, was ein Embryo noch ist, unmittelbar sich mittheilen möge, nur schwer vollziehen. Und fragt man nach dem Zweck eines so abenteuerlichen Wunders: so will sich auch kein rech- ter zeigen. Denn sollte es sich auf den Täufer beziehen, also diesem möglichst frühe ein Eindruck von Demjenigen gegeben werden, für welchen zu wirken er bestimmt war: so weiss man gar nicht, wie ein solcher Eindruck auf ei- nen Embryo müsste beschaffen gewesen sein; sollte aber der Zweck in den übrigen Personen, in Maria oder Elisabet, liegen: so war ja diesen das erforderliche Maass von Ein- sicht und Glauben bereits in Folge höherer Offenbarungen zu Theil geworden. Nicht geringere Schwierigkeiten setzt zunächst der natürlichen, dann aber ebenso auch der su- pranaturalistischen Deutung der Hymnus der Maria entge- gen. Denn dass gerade vor den Worten Maria's die For- mel: eplesthe pneumatos agiou nicht steht, welche sowohl den Hymnus des Zacharias (V. 67.), als auch die Anrede Das Leben Jesu I. Band. 13
Drittes Kapitel. §. 27. zückung der Mutter das Kind, physiologisch erklärbar,gleichsam Antheil genommen habe. So aber stellt der Re- ferent die Sache nicht dar, als ob die Gemüthsbewegung der Mutter die vorausgehende Ursache der Bewegung des Kindes gewesen wäre: sondern die Begeisterung der Mut- ter wird erst nach der Bewegung des Kindes erwähnt, und auch nach V. 44. muss man die Sache so fassen, daſs die höhere Anregung umgekehrt vom Kinde aus sich der Mutter mitgetheilt habe, was in jedem Falle etwas Über- natürliches voraussetzt. Aber eben hierin liegt Einiges, was selbst auf supranaturalistischem Boden zum Anstoſs gereichen kann; woher es eben kommt, daſs auch jene or- thodoxen Ausleger bemüht waren, einer unmittelbar über- natürlichen Anregung der Bewegung des Kindes auszuwei- chen. Wenn wir uns nämlich zwar wohl denken können, wie der göttliche Geist auf den ihm verwandten menschli- chen in unmittelbarer Weise anregend wirke: so läſst sich doch die Vorstellung, wie er an ein Unbegeistetes, was ein Embryo noch ist, unmittelbar sich mittheilen möge, nur schwer vollziehen. Und fragt man nach dem Zweck eines so abenteuerlichen Wunders: so will sich auch kein rech- ter zeigen. Denn sollte es sich auf den Täufer beziehen, also diesem möglichst frühe ein Eindruck von Demjenigen gegeben werden, für welchen zu wirken er bestimmt war: so weiſs man gar nicht, wie ein solcher Eindruck auf ei- nen Embryo müsste beschaffen gewesen sein; sollte aber der Zweck in den übrigen Personen, in Maria oder Elisabet, liegen: so war ja diesen das erforderliche Maaſs von Ein- sicht und Glauben bereits in Folge höherer Offenbarungen zu Theil geworden. Nicht geringere Schwierigkeiten setzt zunächst der natürlichen, dann aber ebenso auch der su- pranaturalistischen Deutung der Hymnus der Maria entge- gen. Denn daſs gerade vor den Worten Maria's die For- mel: ἐπλήσϑη πνεύματος ἁγίου nicht steht, welche sowohl den Hymnus des Zacharias (V. 67.), als auch die Anrede Das Leben Jesu I. Band. 13
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0217" n="193"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Drittes Kapitel</hi>. §. 27.</fw><lb/> zückung der Mutter das Kind, physiologisch erklärbar,<lb/> gleichsam Antheil genommen habe. So aber stellt der Re-<lb/> ferent die Sache nicht dar, als ob die Gemüthsbewegung<lb/> der Mutter die vorausgehende Ursache der Bewegung des<lb/> Kindes gewesen wäre: sondern die Begeisterung der Mut-<lb/> ter wird erst nach der Bewegung des Kindes erwähnt,<lb/> und auch nach V. 44. muss man die Sache so fassen, daſs<lb/> die höhere Anregung umgekehrt vom Kinde aus sich der<lb/> Mutter mitgetheilt habe, was in jedem Falle etwas Über-<lb/> natürliches voraussetzt. Aber eben hierin liegt Einiges,<lb/> was selbst auf supranaturalistischem Boden zum Anstoſs<lb/> gereichen kann; woher es eben kommt, daſs auch jene or-<lb/> thodoxen Ausleger bemüht waren, einer unmittelbar über-<lb/> natürlichen Anregung der Bewegung des Kindes auszuwei-<lb/> chen. Wenn wir uns nämlich zwar wohl denken können,<lb/> wie der göttliche Geist auf den ihm verwandten menschli-<lb/> chen in unmittelbarer Weise anregend wirke: so läſst sich<lb/> doch die Vorstellung, wie er an ein Unbegeistetes, was ein<lb/> Embryo noch ist, unmittelbar sich mittheilen möge, nur<lb/> schwer vollziehen. Und fragt man nach dem Zweck eines<lb/> so abenteuerlichen Wunders: so will sich auch kein rech-<lb/> ter zeigen. Denn sollte es sich auf den Täufer beziehen,<lb/> also diesem möglichst frühe ein Eindruck von Demjenigen<lb/> gegeben werden, für welchen zu wirken er bestimmt war:<lb/> so weiſs man gar nicht, wie ein solcher Eindruck auf ei-<lb/> nen Embryo müsste beschaffen gewesen sein; sollte aber der<lb/> Zweck in den übrigen Personen, in Maria oder Elisabet,<lb/> liegen: so war ja diesen das erforderliche Maaſs von Ein-<lb/> sicht und Glauben bereits in Folge höherer Offenbarungen<lb/> zu Theil geworden. Nicht geringere Schwierigkeiten setzt<lb/> zunächst der natürlichen, dann aber ebenso auch der su-<lb/> pranaturalistischen Deutung der Hymnus der Maria entge-<lb/> gen. Denn daſs gerade vor den Worten Maria's die For-<lb/> mel: ἐπλήσϑη πνεύματος ἁγίου nicht steht, welche sowohl<lb/> den Hymnus des Zacharias (V. 67.), als auch die Anrede<lb/> <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#i">Das Leben Jesu I. Band.</hi> 13</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [193/0217]
Drittes Kapitel. §. 27.
zückung der Mutter das Kind, physiologisch erklärbar,
gleichsam Antheil genommen habe. So aber stellt der Re-
ferent die Sache nicht dar, als ob die Gemüthsbewegung
der Mutter die vorausgehende Ursache der Bewegung des
Kindes gewesen wäre: sondern die Begeisterung der Mut-
ter wird erst nach der Bewegung des Kindes erwähnt,
und auch nach V. 44. muss man die Sache so fassen, daſs
die höhere Anregung umgekehrt vom Kinde aus sich der
Mutter mitgetheilt habe, was in jedem Falle etwas Über-
natürliches voraussetzt. Aber eben hierin liegt Einiges,
was selbst auf supranaturalistischem Boden zum Anstoſs
gereichen kann; woher es eben kommt, daſs auch jene or-
thodoxen Ausleger bemüht waren, einer unmittelbar über-
natürlichen Anregung der Bewegung des Kindes auszuwei-
chen. Wenn wir uns nämlich zwar wohl denken können,
wie der göttliche Geist auf den ihm verwandten menschli-
chen in unmittelbarer Weise anregend wirke: so läſst sich
doch die Vorstellung, wie er an ein Unbegeistetes, was ein
Embryo noch ist, unmittelbar sich mittheilen möge, nur
schwer vollziehen. Und fragt man nach dem Zweck eines
so abenteuerlichen Wunders: so will sich auch kein rech-
ter zeigen. Denn sollte es sich auf den Täufer beziehen,
also diesem möglichst frühe ein Eindruck von Demjenigen
gegeben werden, für welchen zu wirken er bestimmt war:
so weiſs man gar nicht, wie ein solcher Eindruck auf ei-
nen Embryo müsste beschaffen gewesen sein; sollte aber der
Zweck in den übrigen Personen, in Maria oder Elisabet,
liegen: so war ja diesen das erforderliche Maaſs von Ein-
sicht und Glauben bereits in Folge höherer Offenbarungen
zu Theil geworden. Nicht geringere Schwierigkeiten setzt
zunächst der natürlichen, dann aber ebenso auch der su-
pranaturalistischen Deutung der Hymnus der Maria entge-
gen. Denn daſs gerade vor den Worten Maria's die For-
mel: ἐπλήσϑη πνεύματος ἁγίου nicht steht, welche sowohl
den Hymnus des Zacharias (V. 67.), als auch die Anrede
Das Leben Jesu I. Band. 13
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |