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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835.

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Erster Abschnitt.
gleich der, dass die Genealogieen bei Matthäus und Lukas
von ebionitisch denkenden Urchristen abgefasst sein müs-
sen. Sollten wir hienach erwarten, in den alten ebioniti-
schen Evangelien, von welchen wir noch Kunde haben,
vor Allem diese Geschlechtsregister noch anzutreffen: so
müssen wir uns nicht wenig überrascht finden, wenn wir
erfahren, dass gerade jene judenchristlichen Evangelien oh-
ne die Genealogieen waren 6). Zwar, da nach Epiphanius
das Evangelium der Ebioniten erst mit dem Auftritt des
Täufers anfieng, so könnte man unter den genealogiais,
welche sie weggeschnitten haben sollen, die Geburts- und
Kindheitsgeschichte der beiden ersten Kapitel unsres Mat-
thäus verstehen, welche sie, weil sie die von ihnen verwor-
fene vaterlose Zeugung Jesu enthalten, wenigstens nicht in
ihrer jetzigen Form annehmen konnten, und könnte nun
vermuthen, dass in ihrem Evangelium vielleicht nur diese
ihrem System zuwiderlaufenden Abschnitte gefehlt haben,
die ihrer Ansicht zusagenden Geschlechtsregister aber den-
noch irgendwo eingefügt gewesen seien. Aber diese Aus-
sicht verschwindet alsbald, wenn wir sehen; wie Epipha-
nius in Bezug auf die Nazarener die Genealogieen, von wel-
chen er nicht weiss, ob sie auch ihnen gefehlt oder nicht,
als tas apo tou Abraam eos Khrisou bestimmt 7), wo-
nach er unter den Genealogieen, welche einigen Häretikern
fehlten, offenbar zunächst die Geschlechtstafeln versteht,
wenn er auch in Beziehung auf die Ebioniten zugleich die
Geburtsgeschichte unter jenem Ausdruck mitbegreift.

Wie sollen wir uns nun diese befremdende Erschei-
nung erklären, dass gerade bei derjenigen Christenpartei,
bei welcher wir den Ursprung der Genealogieen suchen zu
müssen glaubten, dieselben gar nicht zu finden sind? Ein
neuerer Forscher stellt die Vermuthung auf, die Juden-

6) Haeres. 30. §. 14.
7) Epiphan. haeres. 29, 9.

Erster Abschnitt.
gleich der, daſs die Genealogieen bei Matthäus und Lukas
von ebionitisch denkenden Urchristen abgefaſst sein müs-
sen. Sollten wir hienach erwarten, in den alten ebioniti-
schen Evangelien, von welchen wir noch Kunde haben,
vor Allem diese Geschlechtsregister noch anzutreffen: so
müssen wir uns nicht wenig überrascht finden, wenn wir
erfahren, daſs gerade jene judenchristlichen Evangelien oh-
ne die Genealogieen waren 6). Zwar, da nach Epiphanius
das Evangelium der Ebioniten erst mit dem Auftritt des
Täufers anfieng, so könnte man unter den γενεαλογίαις,
welche sie weggeschnitten haben sollen, die Geburts- und
Kindheitsgeschichte der beiden ersten Kapitel unsres Mat-
thäus verstehen, welche sie, weil sie die von ihnen verwor-
fene vaterlose Zeugung Jesu enthalten, wenigstens nicht in
ihrer jetzigen Form annehmen konnten, und könnte nun
vermuthen, daſs in ihrem Evangelium vielleicht nur diese
ihrem System zuwiderlaufenden Abschnitte gefehlt haben,
die ihrer Ansicht zusagenden Geschlechtsregister aber den-
noch irgendwo eingefügt gewesen seien. Aber diese Aus-
sicht verschwindet alsbald, wenn wir sehen; wie Epipha-
nius in Bezug auf die Nazarener die Genealogieen, von wel-
chen er nicht weiſs, ob sie auch ihnen gefehlt oder nicht,
als τὰς ἀπὸ τοῦ Ἀβραὰμ ἕως Χριςοῦ bestimmt 7), wo-
nach er unter den Genealogieen, welche einigen Häretikern
fehlten, offenbar zunächst die Geschlechtstafeln versteht,
wenn er auch in Beziehung auf die Ebioniten zugleich die
Geburtsgeschichte unter jenem Ausdruck mitbegreift.

Wie sollen wir uns nun diese befremdende Erschei-
nung erklären, daſs gerade bei derjenigen Christenpartei,
bei welcher wir den Ursprung der Genealogieen suchen zu
müssen glaubten, dieselben gar nicht zu finden sind? Ein
neuerer Forscher stellt die Vermuthung auf, die Juden-

6) Haeres. 30. §. 14.
7) Epiphan. haeres. 29, 9.
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[160/0184] Erster Abschnitt. gleich der, daſs die Genealogieen bei Matthäus und Lukas von ebionitisch denkenden Urchristen abgefaſst sein müs- sen. Sollten wir hienach erwarten, in den alten ebioniti- schen Evangelien, von welchen wir noch Kunde haben, vor Allem diese Geschlechtsregister noch anzutreffen: so müssen wir uns nicht wenig überrascht finden, wenn wir erfahren, daſs gerade jene judenchristlichen Evangelien oh- ne die Genealogieen waren 6). Zwar, da nach Epiphanius das Evangelium der Ebioniten erst mit dem Auftritt des Täufers anfieng, so könnte man unter den γενεαλογίαις, welche sie weggeschnitten haben sollen, die Geburts- und Kindheitsgeschichte der beiden ersten Kapitel unsres Mat- thäus verstehen, welche sie, weil sie die von ihnen verwor- fene vaterlose Zeugung Jesu enthalten, wenigstens nicht in ihrer jetzigen Form annehmen konnten, und könnte nun vermuthen, daſs in ihrem Evangelium vielleicht nur diese ihrem System zuwiderlaufenden Abschnitte gefehlt haben, die ihrer Ansicht zusagenden Geschlechtsregister aber den- noch irgendwo eingefügt gewesen seien. Aber diese Aus- sicht verschwindet alsbald, wenn wir sehen; wie Epipha- nius in Bezug auf die Nazarener die Genealogieen, von wel- chen er nicht weiſs, ob sie auch ihnen gefehlt oder nicht, als τὰς ἀπὸ τοῦ Ἀβραὰμ ἕως Χριςοῦ bestimmt 7), wo- nach er unter den Genealogieen, welche einigen Häretikern fehlten, offenbar zunächst die Geschlechtstafeln versteht, wenn er auch in Beziehung auf die Ebioniten zugleich die Geburtsgeschichte unter jenem Ausdruck mitbegreift. Wie sollen wir uns nun diese befremdende Erschei- nung erklären, daſs gerade bei derjenigen Christenpartei, bei welcher wir den Ursprung der Genealogieen suchen zu müssen glaubten, dieselben gar nicht zu finden sind? Ein neuerer Forscher stellt die Vermuthung auf, die Juden- 6) Haeres. 30. §. 14. 7) Epiphan. haeres. 29, 9.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 1. Tübingen, 1835, S. 160. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus01_1835/184>, abgerufen am 02.05.2024.