ihr Frühstück oder Vesper aßen, saß er auf seinem umgestülpten Schubkarren mit dem Buche in der Hand. Und wenn im Herbst die Fluthen höher stiegen und manch ein Mal die Arbeit eingestellt werden mußte, dann ging er nicht mit den Andern nach Haus, sondern blieb, die Hände über die Kniee gefaltet, an der abfallenden Seeseite des Deiches sitzen und sah stundenlang zu, wie die trüben Nordseewellen immer höher an die Gras- narbe des Deiches hinaufschlugen; erst wenn ihm die Füße überspült waren, und der Schaum ihm ins Gesicht spritzte, rückte er ein paar Fuß höher und blieb dann wieder sitzen. Er hörte weder das Klatschen des Wassers noch das Geschrei der Möven und Strandvögel, die um oder über ihm flogen und ihn fast mit ihren Flügeln streiften, mit den schwarzen Augen in die seinen blitzend; er sah auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde Wasserwüste sich die Nacht ausbreitete; was er allein hier sah, war der brandende Saum des Wassers, der, als die Fluth stand, mit hartem Schlage immer wieder dieselbe Stelle traf und vor seinen Augen die Grasnarbe des steilen Deiches auswusch.
ihr Frühſtück oder Vesper aßen, ſaß er auf ſeinem umgeſtülpten Schubkarren mit dem Buche in der Hand. Und wenn im Herbſt die Fluthen höher ſtiegen und manch ein Mal die Arbeit eingeſtellt werden mußte, dann ging er nicht mit den Andern nach Haus, ſondern blieb, die Hände über die Kniee gefaltet, an der abfallenden Seeſeite des Deiches ſitzen und ſah ſtundenlang zu, wie die trüben Nordſeewellen immer höher an die Gras- narbe des Deiches hinaufſchlugen; erſt wenn ihm die Füße überſpült waren, und der Schaum ihm ins Geſicht ſpritzte, rückte er ein paar Fuß höher und blieb dann wieder ſitzen. Er hörte weder das Klatſchen des Waſſers noch das Geſchrei der Möven und Strandvögel, die um oder über ihm flogen und ihn faſt mit ihren Flügeln ſtreiften, mit den ſchwarzen Augen in die ſeinen blitzend; er ſah auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde Waſſerwüſte ſich die Nacht ausbreitete; was er allein hier ſah, war der brandende Saum des Waſſers, der, als die Fluth ſtand, mit hartem Schlage immer wieder dieſelbe Stelle traf und vor ſeinen Augen die Grasnarbe des ſteilen Deiches auswuſch.
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ihr Frühſtück oder Vesper aßen, ſaß er auf ſeinem
umgeſtülpten Schubkarren mit dem Buche in der
Hand. Und wenn im Herbſt die Fluthen höher
ſtiegen und manch ein Mal die Arbeit eingeſtellt
werden mußte, dann ging er nicht mit den Andern
nach Haus, ſondern blieb, die Hände über die
Kniee gefaltet, an der abfallenden Seeſeite des
Deiches ſitzen und ſah ſtundenlang zu, wie die
trüben Nordſeewellen immer höher an die Gras-
narbe des Deiches hinaufſchlugen; erſt wenn ihm
die Füße überſpült waren, und der Schaum ihm
ins Geſicht ſpritzte, rückte er ein paar Fuß höher
und blieb dann wieder ſitzen. Er hörte weder das
Klatſchen des Waſſers noch das Geſchrei der Möven
und Strandvögel, die um oder über ihm flogen und
ihn faſt mit ihren Flügeln ſtreiften, mit den
ſchwarzen Augen in die ſeinen blitzend; er ſah
auch nicht, wie vor ihm über die weite, wilde
Waſſerwüſte ſich die Nacht ausbreitete; was er
allein hier ſah, war der brandende Saum des
Waſſers, der, als die Fluth ſtand, mit hartem
Schlage immer wieder dieſelbe Stelle traf und vor
ſeinen Augen die Grasnarbe des ſteilen Deiches
auswuſch.
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Zuerst erschienen in: Deutsche Rundschau (Berlin)… [mehr]
Zuerst erschienen in: Deutsche Rundschau (Berlin), April/Mai 1888. Erste Buchausgabe Berlin: Paetel 1888, diese wurde für das DTA zur Digitalisierung herangezogen.
Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/26>, abgerufen am 16.02.2025.
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