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Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888.

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stätte hab' ich droben auf dem Kirchhof finden
können; die todten Körper werden von dem ab-
strömenden Wasser durch den Bruch ins Meer
hinausgetrieben und auf dessen Grunde allmälig
in ihre Urbestandtheile aufgelöst sein -- so haben
sie Ruhe vor den Menschen gehabt. Aber der
Hauke-Haiendeich steht noch jetzt nach hundert
Jahren, und wenn Sie morgen nach der Stadt
reiten und die halbe Stunde Umweg nicht scheuen
wollen, so werden Sie ihn unter den Hufen Ihres
Pferdes haben.

Der Dank, den einstmals Jeve Manners bei
den Enkeln seinem Erbauer versprochen hatte, ist,
wie Sie gesehen haben, ausgeblieben; denn so ist
es, Herr: dem Sokrates gaben sie ein Gift zu
trinken und unseren Herrn Christus schlugen sie an
das Kreuz! Das geht in den letzten Zeiten nicht
mehr so leicht; aber -- einen Gewaltsmenschen
oder einen bösen stiernackigen Pfaffen zum Heiligen,
oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um
Kopfeslänge überwachsen war, zum Spuk und
Nachtgespenst zu machen -- das geht noch alle Tage."

Als das ernsthafte Männlein das gesagt hatte,
stand es auf und horchte nach draußen. "Es ist

ſtätte hab' ich droben auf dem Kirchhof finden
können; die todten Körper werden von dem ab-
ſtrömenden Waſſer durch den Bruch ins Meer
hinausgetrieben und auf deſſen Grunde allmälig
in ihre Urbeſtandtheile aufgelöſt ſein — ſo haben
ſie Ruhe vor den Menſchen gehabt. Aber der
Hauke-Haiendeich ſteht noch jetzt nach hundert
Jahren, und wenn Sie morgen nach der Stadt
reiten und die halbe Stunde Umweg nicht ſcheuen
wollen, ſo werden Sie ihn unter den Hufen Ihres
Pferdes haben.

Der Dank, den einſtmals Jeve Manners bei
den Enkeln ſeinem Erbauer verſprochen hatte, iſt,
wie Sie geſehen haben, ausgeblieben; denn ſo iſt
es, Herr: dem Sokrates gaben ſie ein Gift zu
trinken und unſeren Herrn Chriſtus ſchlugen ſie an
das Kreuz! Das geht in den letzten Zeiten nicht
mehr ſo leicht; aber — einen Gewaltsmenſchen
oder einen böſen ſtiernackigen Pfaffen zum Heiligen,
oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um
Kopfeslänge überwachſen war, zum Spuk und
Nachtgeſpenſt zu machen — das geht noch alle Tage.”

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ſtand es auf und horchte nach draußen. „Es iſt

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[220/0232] ſtätte hab' ich droben auf dem Kirchhof finden können; die todten Körper werden von dem ab- ſtrömenden Waſſer durch den Bruch ins Meer hinausgetrieben und auf deſſen Grunde allmälig in ihre Urbeſtandtheile aufgelöſt ſein — ſo haben ſie Ruhe vor den Menſchen gehabt. Aber der Hauke-Haiendeich ſteht noch jetzt nach hundert Jahren, und wenn Sie morgen nach der Stadt reiten und die halbe Stunde Umweg nicht ſcheuen wollen, ſo werden Sie ihn unter den Hufen Ihres Pferdes haben. Der Dank, den einſtmals Jeve Manners bei den Enkeln ſeinem Erbauer verſprochen hatte, iſt, wie Sie geſehen haben, ausgeblieben; denn ſo iſt es, Herr: dem Sokrates gaben ſie ein Gift zu trinken und unſeren Herrn Chriſtus ſchlugen ſie an das Kreuz! Das geht in den letzten Zeiten nicht mehr ſo leicht; aber — einen Gewaltsmenſchen oder einen böſen ſtiernackigen Pfaffen zum Heiligen, oder einen tüchtigen Kerl, nur weil er uns um Kopfeslänge überwachſen war, zum Spuk und Nachtgeſpenſt zu machen — das geht noch alle Tage.” Als das ernſthafte Männlein das geſagt hatte, ſtand es auf und horchte nach draußen. „Es iſt

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. 220. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/232>, abgerufen am 22.11.2024.