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Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888.

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fuhr ihm durch den Kopf, sie gehe jetzt zum
Conventikelschneider: "Halt' die Schürze auf!" rief
er ihr zu, und da sie es unwillkürlich that, warf
er das kleibeschmutzte Hündlein ihr hinein: "Bring'
ihn der kleinen Wienke; er soll ihr Spielkamerad
werden! Aber wasch' und wärm' ihn zuvor; so
thust Du auch ein gottgefällig Werk; denn die
Creatur ist schier verklommen."

Und Ann' Grethe konnte nicht lassen, ihrem
Wirth Gehorsam zu leisten und kam deshalb heute
nicht in den Conventikel.


Und am andern Tage wurde der letzte Spaten-
stich am neuen Deich gethan; der Wind hatte sich
gelegt; in anmuthigem Fluge schwebten Möven
und Avosetten über Land und Wasser hin und
wieder; von Jevershallig tönte das tausendstimmige
Geknorr der Rottgänse, die sich's noch heute an
der Küste der Nordsee wohl sein ließen, und aus
den weißen Morgennebeln, welche die weite Marsch
bedeckten, stieg allmälig ein goldner Herbsttag und
beleuchtete das neue Werk der Menschenhände.

Nach einigen Wochen kamen mit dem Ober-
deichgrafen die herrschaftlichen Commissäre zur

fuhr ihm durch den Kopf, ſie gehe jetzt zum
Conventikelſchneider: „Halt' die Schürze auf!” rief
er ihr zu, und da ſie es unwillkürlich that, warf
er das kleibeſchmutzte Hündlein ihr hinein: „Bring'
ihn der kleinen Wienke; er ſoll ihr Spielkamerad
werden! Aber waſch' und wärm' ihn zuvor; ſo
thuſt Du auch ein gottgefällig Werk; denn die
Creatur iſt ſchier verklommen.”

Und Ann' Grethe konnte nicht laſſen, ihrem
Wirth Gehorſam zu leiſten und kam deshalb heute
nicht in den Conventikel.


Und am andern Tage wurde der letzte Spaten-
ſtich am neuen Deich gethan; der Wind hatte ſich
gelegt; in anmuthigem Fluge ſchwebten Möven
und Avoſetten über Land und Waſſer hin und
wieder; von Jevershallig tönte das tauſendſtimmige
Geknorr der Rottgänſe, die ſich's noch heute an
der Küſte der Nordſee wohl ſein ließen, und aus
den weißen Morgennebeln, welche die weite Marſch
bedeckten, ſtieg allmälig ein goldner Herbſttag und
beleuchtete das neue Werk der Menſchenhände.

Nach einigen Wochen kamen mit dem Ober-
deichgrafen die herrſchaftlichen Commiſſäre zur

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[164/0176] fuhr ihm durch den Kopf, ſie gehe jetzt zum Conventikelſchneider: „Halt' die Schürze auf!” rief er ihr zu, und da ſie es unwillkürlich that, warf er das kleibeſchmutzte Hündlein ihr hinein: „Bring' ihn der kleinen Wienke; er ſoll ihr Spielkamerad werden! Aber waſch' und wärm' ihn zuvor; ſo thuſt Du auch ein gottgefällig Werk; denn die Creatur iſt ſchier verklommen.” Und Ann' Grethe konnte nicht laſſen, ihrem Wirth Gehorſam zu leiſten und kam deshalb heute nicht in den Conventikel. Und am andern Tage wurde der letzte Spaten- ſtich am neuen Deich gethan; der Wind hatte ſich gelegt; in anmuthigem Fluge ſchwebten Möven und Avoſetten über Land und Waſſer hin und wieder; von Jevershallig tönte das tauſendſtimmige Geknorr der Rottgänſe, die ſich's noch heute an der Küſte der Nordſee wohl ſein ließen, und aus den weißen Morgennebeln, welche die weite Marſch bedeckten, ſtieg allmälig ein goldner Herbſttag und beleuchtete das neue Werk der Menſchenhände. Nach einigen Wochen kamen mit dem Ober- deichgrafen die herrſchaftlichen Commiſſäre zur

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Der Schimmelreiter. Berlin, 1888, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_schimmelreiter_1888/176>, abgerufen am 22.11.2024.