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Storm, Theodor: John Riew', Ein Fest auf Haderslevhuus. Zwei Novellen. Berlin, 1885.

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Augen aber sahen gern dort hinüber, oder sie saß auf einer Bank, neben der die hohe Pappel ragte, und unter dem Summen und dem Gesang der Vögel sah sie wie einst den Bruder nach dem Sommervogel schießen.

Meist saß sie freilich droben bei der Base in dem Gemache mit den Butzenscheiben; sie nähte und stickte; auch lernte sie lateinische Vokabeln oder schrieb mit der Feder nach, was ihr die Base vorgeschrieben hatte. Dazwischen kam wohl einmal der Vater, strich sanft über ihr dunkles Haar und ging dann schweigend wieder fort. Als er ihr dabei eines Tages einen Silberreif ums Haupt gelegt hatte, trug sie ihn ferner jeden Tag.

Später holte die alte Dame auch ihre Schriftrollen aus der Truhe; und eines Abends, eigener Jugendstunden denkend, griff sie nach Hartmanns von der Aue "Armem Heinrich" und begann zu lesen, indessen Dagmar mit offenem Munde ihr zu Füßen saß. Wie krystallene Tröpflein fielen die lichten Worte zu ihr nieder: Der junge unheilbar sieche Burgherr im Schwabenland hatte auf seinem Vorwerk bei dem Meyer sich verborgen; die Menschen sollten nicht sein Elend schauen; aber mit seinen noch immer schönen Augen streifte er einmal traurig seines

Augen aber sahen gern dort hinüber, oder sie saß auf einer Bank, neben der die hohe Pappel ragte, und unter dem Summen und dem Gesang der Vögel sah sie wie einst den Bruder nach dem Sommervogel schießen.

Meist saß sie freilich droben bei der Base in dem Gemache mit den Butzenscheiben; sie nähte und stickte; auch lernte sie lateinische Vokabeln oder schrieb mit der Feder nach, was ihr die Base vorgeschrieben hatte. Dazwischen kam wohl einmal der Vater, strich sanft über ihr dunkles Haar und ging dann schweigend wieder fort. Als er ihr dabei eines Tages einen Silberreif ums Haupt gelegt hatte, trug sie ihn ferner jeden Tag.

Später holte die alte Dame auch ihre Schriftrollen aus der Truhe; und eines Abends, eigener Jugendstunden denkend, griff sie nach Hartmanns von der Aue „Armem Heinrich“ und begann zu lesen, indessen Dagmar mit offenem Munde ihr zu Füßen saß. Wie krystallene Tröpflein fielen die lichten Worte zu ihr nieder: Der junge unheilbar sieche Burgherr im Schwabenland hatte auf seinem Vorwerk bei dem Meyer sich verborgen; die Menschen sollten nicht sein Elend schauen; aber mit seinen noch immer schönen Augen streifte er einmal traurig seines

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[136/0140] Augen aber sahen gern dort hinüber, oder sie saß auf einer Bank, neben der die hohe Pappel ragte, und unter dem Summen und dem Gesang der Vögel sah sie wie einst den Bruder nach dem Sommervogel schießen. Meist saß sie freilich droben bei der Base in dem Gemache mit den Butzenscheiben; sie nähte und stickte; auch lernte sie lateinische Vokabeln oder schrieb mit der Feder nach, was ihr die Base vorgeschrieben hatte. Dazwischen kam wohl einmal der Vater, strich sanft über ihr dunkles Haar und ging dann schweigend wieder fort. Als er ihr dabei eines Tages einen Silberreif ums Haupt gelegt hatte, trug sie ihn ferner jeden Tag. Später holte die alte Dame auch ihre Schriftrollen aus der Truhe; und eines Abends, eigener Jugendstunden denkend, griff sie nach Hartmanns von der Aue „Armem Heinrich“ und begann zu lesen, indessen Dagmar mit offenem Munde ihr zu Füßen saß. Wie krystallene Tröpflein fielen die lichten Worte zu ihr nieder: Der junge unheilbar sieche Burgherr im Schwabenland hatte auf seinem Vorwerk bei dem Meyer sich verborgen; die Menschen sollten nicht sein Elend schauen; aber mit seinen noch immer schönen Augen streifte er einmal traurig seines

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: John Riew', Ein Fest auf Haderslevhuus. Zwei Novellen. Berlin, 1885, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_riew_1885/140>, abgerufen am 03.05.2024.