Storm, Theodor: Eine Malerarbeit. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 257–304. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.aufgewachsen, und da ich bekanntlich das normale Maß nicht zu erreichen vermochte, so bin ich niemals über sie hinausgekommen; derohalben glaube ich, sie gründlicher verstehen gelernt zu haben, als ihr anderen großen Menschenkinder. Er sprach diese Worte mit aufgeregter, unsicherer Stimme; die Wendung, welche die Gedanken unseres Freundes zu nehmen schienen, wollte mir keineswegs gefallen. Gertrud sagte: Diese tiefsinnigen Reden gehen freilich über meinen Horizont, aber sie flößen mir hinlänglich Respect ein; erzählen Sie, ich trete meine Rechte ab. Nachdem der Maler hierauf zwischen uns im Moose Platz genommen hatte, begann er zu erzählen. Anfänglich war es die bekannte Geschichte: Das schöne Königstöchterlein, in der richtigen Erkenntniß, daß die Welt sich ihr zu fügen habe, verlangt beim ersten Schneefall eine weiße Rose; und als der gute König selbst sie endlich in einem verzauberten Garten gefunden und selbstverständlich auch gepflückt hat, tritt ihm -- wie das schon eher in solchem Fall geschehen -- wider alles Erwarten ein Ungeheuer entgegen, dem er als Entgelt Das geloben muß, was bei seiner Heimkehr ihm zuerst entgegenkommen werde. Leider geht es ihm, wie dem alten Richter von Israel; das Erste, was ihn vor seinem Schlosse begrüßt, ist seine Tochter, und am dritten Tage kommt das Ungeheuer, und holt sich die Prin- aufgewachsen, und da ich bekanntlich das normale Maß nicht zu erreichen vermochte, so bin ich niemals über sie hinausgekommen; derohalben glaube ich, sie gründlicher verstehen gelernt zu haben, als ihr anderen großen Menschenkinder. Er sprach diese Worte mit aufgeregter, unsicherer Stimme; die Wendung, welche die Gedanken unseres Freundes zu nehmen schienen, wollte mir keineswegs gefallen. Gertrud sagte: Diese tiefsinnigen Reden gehen freilich über meinen Horizont, aber sie flößen mir hinlänglich Respect ein; erzählen Sie, ich trete meine Rechte ab. Nachdem der Maler hierauf zwischen uns im Moose Platz genommen hatte, begann er zu erzählen. Anfänglich war es die bekannte Geschichte: Das schöne Königstöchterlein, in der richtigen Erkenntniß, daß die Welt sich ihr zu fügen habe, verlangt beim ersten Schneefall eine weiße Rose; und als der gute König selbst sie endlich in einem verzauberten Garten gefunden und selbstverständlich auch gepflückt hat, tritt ihm — wie das schon eher in solchem Fall geschehen — wider alles Erwarten ein Ungeheuer entgegen, dem er als Entgelt Das geloben muß, was bei seiner Heimkehr ihm zuerst entgegenkommen werde. Leider geht es ihm, wie dem alten Richter von Israel; das Erste, was ihn vor seinem Schlosse begrüßt, ist seine Tochter, und am dritten Tage kommt das Ungeheuer, und holt sich die Prin- <TEI> <text> <body> <div n="2"> <p><pb facs="#f0022"/> aufgewachsen, und da ich bekanntlich das normale Maß nicht zu erreichen vermochte, so bin ich niemals über sie hinausgekommen; derohalben glaube ich, sie gründlicher verstehen gelernt zu haben, als ihr anderen großen Menschenkinder. Er sprach diese Worte mit aufgeregter, unsicherer Stimme; die Wendung, welche die Gedanken unseres Freundes zu nehmen schienen, wollte mir keineswegs gefallen.</p><lb/> <p>Gertrud sagte: Diese tiefsinnigen Reden gehen freilich über meinen Horizont, aber sie flößen mir hinlänglich Respect ein; erzählen Sie, ich trete meine Rechte ab.</p><lb/> <p>Nachdem der Maler hierauf zwischen uns im Moose Platz genommen hatte, begann er zu erzählen. Anfänglich war es die bekannte Geschichte: Das schöne Königstöchterlein, in der richtigen Erkenntniß, daß die Welt sich ihr zu fügen habe, verlangt beim ersten Schneefall eine weiße Rose; und als der gute König selbst sie endlich in einem verzauberten Garten gefunden und selbstverständlich auch gepflückt hat, tritt ihm — wie das schon eher in solchem Fall geschehen — wider alles Erwarten ein Ungeheuer entgegen, dem er als Entgelt Das geloben muß, was bei seiner Heimkehr ihm zuerst entgegenkommen werde. Leider geht es ihm, wie dem alten Richter von Israel; das Erste, was ihn vor seinem Schlosse begrüßt, ist seine Tochter, und am dritten Tage kommt das Ungeheuer, und holt sich die Prin-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
aufgewachsen, und da ich bekanntlich das normale Maß nicht zu erreichen vermochte, so bin ich niemals über sie hinausgekommen; derohalben glaube ich, sie gründlicher verstehen gelernt zu haben, als ihr anderen großen Menschenkinder. Er sprach diese Worte mit aufgeregter, unsicherer Stimme; die Wendung, welche die Gedanken unseres Freundes zu nehmen schienen, wollte mir keineswegs gefallen.
Gertrud sagte: Diese tiefsinnigen Reden gehen freilich über meinen Horizont, aber sie flößen mir hinlänglich Respect ein; erzählen Sie, ich trete meine Rechte ab.
Nachdem der Maler hierauf zwischen uns im Moose Platz genommen hatte, begann er zu erzählen. Anfänglich war es die bekannte Geschichte: Das schöne Königstöchterlein, in der richtigen Erkenntniß, daß die Welt sich ihr zu fügen habe, verlangt beim ersten Schneefall eine weiße Rose; und als der gute König selbst sie endlich in einem verzauberten Garten gefunden und selbstverständlich auch gepflückt hat, tritt ihm — wie das schon eher in solchem Fall geschehen — wider alles Erwarten ein Ungeheuer entgegen, dem er als Entgelt Das geloben muß, was bei seiner Heimkehr ihm zuerst entgegenkommen werde. Leider geht es ihm, wie dem alten Richter von Israel; das Erste, was ihn vor seinem Schlosse begrüßt, ist seine Tochter, und am dritten Tage kommt das Ungeheuer, und holt sich die Prin-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/storm_malerarbeit_1910 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/storm_malerarbeit_1910/22 |
Zitationshilfe: | Storm, Theodor: Eine Malerarbeit. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 9. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 257–304. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_malerarbeit_1910/22>, abgerufen am 16.02.2025. |