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Storm, Theodor: Immensee. Berlin, 1852.

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men Straßen; Alte und Junge saßen in ihren Häu¬
sern familienweise zusammen; der zweite Abschnitt
des Weihnachtsabends hatte begonnen. --

Als Reinhardt in die Nähe des Rathskellers kam,
hörte er aus der Tiefe herauf Geigenstrich und den
Gesang des Zittermädchens; nun klingelte unten
die Kellerthür, und eine dunkle Gestalt schwankte die
breite, matt erleuchtete Treppe herauf. Reinhardt
trat in den Häuserschatten, und ging dann rasch vor¬
über. Nach einer Weile erreichte er den erleuchteten
Laden eines Juweliers; und nachdem er hier ein klei¬
nes Kreuz von rothen Korallen eingehandelt hatte,
ging er auf demselben Wege, den er gekommen war,
wieder zurück.

Nicht weit von seiner Wohnung bemerkte er ein
kleines, in klägliche Lumpen gehülltes Mädchen an
einer hohen Hausthür stehen, in vergeblicher Bemü¬
hung sie zu öffnen. Soll ich dir helfen? sagte er.
Das Kind erwiderte nichts, ließ aber die schwere
Thürklinke fahren. Reinhardt hatte schon die Thür
geöffnet. Nein, sagte er, sie könnten dich hinaus¬
jagen; komm mit mir! Ich will dir Weihnachtskuchen
geben. Dann machte er die Thüre wieder zu und

men Straßen; Alte und Junge ſaßen in ihren Häu¬
ſern familienweiſe zuſammen; der zweite Abſchnitt
des Weihnachtsabends hatte begonnen. —

Als Reinhardt in die Nähe des Rathskellers kam,
hörte er aus der Tiefe herauf Geigenſtrich und den
Geſang des Zittermädchens; nun klingelte unten
die Kellerthür, und eine dunkle Geſtalt ſchwankte die
breite, matt erleuchtete Treppe herauf. Reinhardt
trat in den Häuſerſchatten, und ging dann raſch vor¬
über. Nach einer Weile erreichte er den erleuchteten
Laden eines Juweliers; und nachdem er hier ein klei¬
nes Kreuz von rothen Korallen eingehandelt hatte,
ging er auf demſelben Wege, den er gekommen war,
wieder zurück.

Nicht weit von ſeiner Wohnung bemerkte er ein
kleines, in klägliche Lumpen gehülltes Mädchen an
einer hohen Hausthür ſtehen, in vergeblicher Bemü¬
hung ſie zu öffnen. Soll ich dir helfen? ſagte er.
Das Kind erwiderte nichts, ließ aber die ſchwere
Thürklinke fahren. Reinhardt hatte ſchon die Thür
geöffnet. Nein, ſagte er, ſie könnten dich hinaus¬
jagen; komm mit mir! Ich will dir Weihnachtskuchen
geben. Dann machte er die Thüre wieder zu und

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[28/0034] men Straßen; Alte und Junge ſaßen in ihren Häu¬ ſern familienweiſe zuſammen; der zweite Abſchnitt des Weihnachtsabends hatte begonnen. — Als Reinhardt in die Nähe des Rathskellers kam, hörte er aus der Tiefe herauf Geigenſtrich und den Geſang des Zittermädchens; nun klingelte unten die Kellerthür, und eine dunkle Geſtalt ſchwankte die breite, matt erleuchtete Treppe herauf. Reinhardt trat in den Häuſerſchatten, und ging dann raſch vor¬ über. Nach einer Weile erreichte er den erleuchteten Laden eines Juweliers; und nachdem er hier ein klei¬ nes Kreuz von rothen Korallen eingehandelt hatte, ging er auf demſelben Wege, den er gekommen war, wieder zurück. Nicht weit von ſeiner Wohnung bemerkte er ein kleines, in klägliche Lumpen gehülltes Mädchen an einer hohen Hausthür ſtehen, in vergeblicher Bemü¬ hung ſie zu öffnen. Soll ich dir helfen? ſagte er. Das Kind erwiderte nichts, ließ aber die ſchwere Thürklinke fahren. Reinhardt hatte ſchon die Thür geöffnet. Nein, ſagte er, ſie könnten dich hinaus¬ jagen; komm mit mir! Ich will dir Weihnachtskuchen geben. Dann machte er die Thüre wieder zu und

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Immensee. Berlin, 1852, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_immensee_1852/34>, abgerufen am 25.04.2024.