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Storm, Theodor: Aquis submersus. Berlin, 1877.

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Da hing mitten in die Kirche hinab ein schrecklich
übermenschlicher Crucifixus, dessen hagere Glieder
und verzerrtes Antlitz mit Blute überrieselt waren;
dem zur Seite an einem Mauerpfeiler haftete
gleich einem Nest die braungeschnitzte Kanzel, an
der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Thier-
und Teufelsfratzen sich hervorzudrängen schienen.
Besondere Anziehung aber übte der große, ge¬
schnitzte Altarschrank im Chor der Kirche, auf
dem in bemalten Figuren die Leidensgeschichte
Christi dargestellt war; so seltsam wilde Gesichter,
wie das des Kaiphas oder die der Kriegsknechte,
welche in ihren goldenen Harnischen um des
Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam man
draußen im Alltagsleben nicht zu sehen; tröstlich
damit contrastirte nur das holde Antlitz der am
Kreuze hingesunkenen Maria; ja, sie hätte leicht
mein Knabenherz mit einer phantastischen Neigung
bestricken können, wenn nicht ein Anderes mit
noch stärkerem Reize des Geheimnißvollen mich
immer wieder von ihr abgezogen hätte.

Unter all' diesen seltsamen oder wol gar

Da hing mitten in die Kirche hinab ein ſchrecklich
übermenſchlicher Crucifixus, deſſen hagere Glieder
und verzerrtes Antlitz mit Blute überrieſelt waren;
dem zur Seite an einem Mauerpfeiler haftete
gleich einem Neſt die braungeſchnitzte Kanzel, an
der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Thier-
und Teufelsfratzen ſich hervorzudrängen ſchienen.
Beſondere Anziehung aber übte der große, ge¬
ſchnitzte Altarſchrank im Chor der Kirche, auf
dem in bemalten Figuren die Leidensgeſchichte
Chriſti dargeſtellt war; ſo ſeltſam wilde Geſichter,
wie das des Kaiphas oder die der Kriegsknechte,
welche in ihren goldenen Harniſchen um des
Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam man
draußen im Alltagsleben nicht zu ſehen; tröſtlich
damit contraſtirte nur das holde Antlitz der am
Kreuze hingeſunkenen Maria; ja, ſie hätte leicht
mein Knabenherz mit einer phantaſtiſchen Neigung
beſtricken können, wenn nicht ein Anderes mit
noch ſtärkerem Reize des Geheimnißvollen mich
immer wieder von ihr abgezogen hätte.

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[7/0021] Da hing mitten in die Kirche hinab ein ſchrecklich übermenſchlicher Crucifixus, deſſen hagere Glieder und verzerrtes Antlitz mit Blute überrieſelt waren; dem zur Seite an einem Mauerpfeiler haftete gleich einem Neſt die braungeſchnitzte Kanzel, an der aus Frucht- und Blattgewinden allerlei Thier- und Teufelsfratzen ſich hervorzudrängen ſchienen. Beſondere Anziehung aber übte der große, ge¬ ſchnitzte Altarſchrank im Chor der Kirche, auf dem in bemalten Figuren die Leidensgeſchichte Chriſti dargeſtellt war; ſo ſeltſam wilde Geſichter, wie das des Kaiphas oder die der Kriegsknechte, welche in ihren goldenen Harniſchen um des Gekreuzigten Mantel würfelten, bekam man draußen im Alltagsleben nicht zu ſehen; tröſtlich damit contraſtirte nur das holde Antlitz der am Kreuze hingeſunkenen Maria; ja, ſie hätte leicht mein Knabenherz mit einer phantaſtiſchen Neigung beſtricken können, wenn nicht ein Anderes mit noch ſtärkerem Reize des Geheimnißvollen mich immer wieder von ihr abgezogen hätte. Unter all' dieſen ſeltſamen oder wol gar

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Zitationshilfe: Storm, Theodor: Aquis submersus. Berlin, 1877, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storm_aquis_1877/21>, abgerufen am 21.11.2024.