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Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

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Jahre hindurch in der Residenz zu leben.
Der Graf, der ihn nicht nur an seinem Tisch,
sondern auch zuweilen in seiner Bibliothek an-
traf, und einen kenntnißreichen erfahrnen Offi-
zier in ihm fand, gewann ihn lieb, ohne ihn
jemals um seine Verhältnisse zu befragen,
und diese zu entdecken hatte der Offizier nicht
Entschlossenheit genug. Plötzlich permißt man
diesen Mann an der Tafel des Grafen, und
es findet sich, daß Niemand, nicht einmal die
Bediente des Hauses seinen Namen oder seine
Wohnung wissen. Der Graf, der einen so
guten Gesellschafter ungern verlor, läßt überall
die sorgfältigsten Nachforschungen anstellen;
man trifft den Fremdling nicht weit von der
Residenz, im Begriff seine Rückreise anzutre-
ten. Er wird, ohne weitere Erklärung, zurück
und in das Haus des Grafen geführt, wo er,
statt einer ängstlich befürchteten Katastrophe,
eine gute Tafel findet, und seinen Platz ne-
ben dem Grafen einnehmen muß. Ein freund-
schaftliches Gespräch lös't das Räthsel, und
was zweyjährige Bemühungen dem Fremden
nicht hatten verschaffen können, das gewährt
ihm der Zufall: eine anständige Stelle bey
der Armee.


Jahre hindurch in der Reſidenz zu leben.
Der Graf, der ihn nicht nur an ſeinem Tiſch,
ſondern auch zuweilen in ſeiner Bibliothek an-
traf, und einen kenntnißreichen erfahrnen Offi-
zier in ihm fand, gewann ihn lieb, ohne ihn
jemals um ſeine Verhaͤltniſſe zu befragen,
und dieſe zu entdecken hatte der Offizier nicht
Entſchloſſenheit genug. Ploͤtzlich permißt man
dieſen Mann an der Tafel des Grafen, und
es findet ſich, daß Niemand, nicht einmal die
Bediente des Hauſes ſeinen Namen oder ſeine
Wohnung wiſſen. Der Graf, der einen ſo
guten Geſellſchafter ungern verlor, laͤßt uͤberall
die ſorgfaͤltigſten Nachforſchungen anſtellen;
man trifft den Fremdling nicht weit von der
Reſidenz, im Begriff ſeine Ruͤckreiſe anzutre-
ten. Er wird, ohne weitere Erklaͤrung, zuruͤck
und in das Haus des Grafen gefuͤhrt, wo er,
ſtatt einer aͤngſtlich befuͤrchteten Kataſtrophe,
eine gute Tafel findet, und ſeinen Platz ne-
ben dem Grafen einnehmen muß. Ein freund-
ſchaftliches Geſpraͤch loͤſ’t das Raͤthſel, und
was zweyjaͤhrige Bemuͤhungen dem Fremden
nicht hatten verſchaffen koͤnnen, das gewaͤhrt
ihm der Zufall: eine anſtaͤndige Stelle bey
der Armee.


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[476/0494] Jahre hindurch in der Reſidenz zu leben. Der Graf, der ihn nicht nur an ſeinem Tiſch, ſondern auch zuweilen in ſeiner Bibliothek an- traf, und einen kenntnißreichen erfahrnen Offi- zier in ihm fand, gewann ihn lieb, ohne ihn jemals um ſeine Verhaͤltniſſe zu befragen, und dieſe zu entdecken hatte der Offizier nicht Entſchloſſenheit genug. Ploͤtzlich permißt man dieſen Mann an der Tafel des Grafen, und es findet ſich, daß Niemand, nicht einmal die Bediente des Hauſes ſeinen Namen oder ſeine Wohnung wiſſen. Der Graf, der einen ſo guten Geſellſchafter ungern verlor, laͤßt uͤberall die ſorgfaͤltigſten Nachforſchungen anſtellen; man trifft den Fremdling nicht weit von der Reſidenz, im Begriff ſeine Ruͤckreiſe anzutre- ten. Er wird, ohne weitere Erklaͤrung, zuruͤck und in das Haus des Grafen gefuͤhrt, wo er, ſtatt einer aͤngſtlich befuͤrchteten Kataſtrophe, eine gute Tafel findet, und ſeinen Platz ne- ben dem Grafen einnehmen muß. Ein freund- ſchaftliches Geſpraͤch loͤſ’t das Raͤthſel, und was zweyjaͤhrige Bemuͤhungen dem Fremden nicht hatten verſchaffen koͤnnen, das gewaͤhrt ihm der Zufall: eine anſtaͤndige Stelle bey der Armee.

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Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 476. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/494>, abgerufen am 18.05.2024.