Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794.

Bild:
<< vorherige Seite

lichste Beschimpfung zu erwarten, ohne auf
den Beystand auch nur Eines Mannes rech-
nen zu dürfen. Selten wagen sie es daher
anders als mit der Begleitung und unter dem
Schutz eines handfesten Kerls zu erscheinen,
der die Rechte ihres Geschlechts in Nothfällen
geltend zu machen versteht. Uebrigens fällt
nichts in diesen Versammlungen vor, was den
guten Sitten zuwider wäre; man sieht sich
nur, wie auf einem Marktplatz, um zu wäh-
len und den Preis zu bestimmen.

Ueberall, in allen großen Städten, sind die
Freudenmädchen ein vorzüglich interessan-
ter Gegenstand der Karakteristik; hier nicht.
Der öffentliche Anstrich von Ehrbarkeit, den
unsere Sitten haben, schließt zwar keineswe-
ges den mannigfaltigsten und ausschweifendsten
Genuß der Liebe aus; aber er verschleyert
ihn so gut, daß ein sehr scharfes Auge und
eine lange Bekanntschaft mit unserer Lebens-
art dazu gehört, um das wahre Maaß und
die Modifikationen desselben zu entdecken.
Kein Fremder, der nur acht Tage in London,
Paris oder Berlin verweilt und die öffentli-
chen Oerter besucht hat, wird umhin können,

lichſte Beſchimpfung zu erwarten, ohne auf
den Beyſtand auch nur Eines Mannes rech-
nen zu duͤrfen. Selten wagen ſie es daher
anders als mit der Begleitung und unter dem
Schutz eines handfeſten Kerls zu erſcheinen,
der die Rechte ihres Geſchlechts in Nothfaͤllen
geltend zu machen verſteht. Uebrigens faͤllt
nichts in dieſen Verſammlungen vor, was den
guten Sitten zuwider waͤre; man ſieht ſich
nur, wie auf einem Marktplatz, um zu waͤh-
len und den Preis zu beſtimmen.

Ueberall, in allen großen Staͤdten, ſind die
Freudenmaͤdchen ein vorzuͤglich intereſſan-
ter Gegenſtand der Karakteriſtik; hier nicht.
Der oͤffentliche Anſtrich von Ehrbarkeit, den
unſere Sitten haben, ſchließt zwar keineswe-
ges den mannigfaltigſten und ausſchweifendſten
Genuß der Liebe aus; aber er verſchleyert
ihn ſo gut, daß ein ſehr ſcharfes Auge und
eine lange Bekanntſchaft mit unſerer Lebens-
art dazu gehoͤrt, um das wahre Maaß und
die Modifikationen deſſelben zu entdecken.
Kein Fremder, der nur acht Tage in London,
Paris oder Berlin verweilt und die oͤffentli-
chen Oerter beſucht hat, wird umhin koͤnnen,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0340" n="322"/>
lich&#x017F;te Be&#x017F;chimpfung zu erwarten, ohne auf<lb/>
den Bey&#x017F;tand auch nur Eines Mannes rech-<lb/>
nen zu du&#x0364;rfen. Selten wagen &#x017F;ie es daher<lb/>
anders als mit der Begleitung und unter dem<lb/>
Schutz eines handfe&#x017F;ten Kerls zu er&#x017F;cheinen,<lb/>
der die Rechte ihres Ge&#x017F;chlechts in Nothfa&#x0364;llen<lb/>
geltend zu machen ver&#x017F;teht. Uebrigens fa&#x0364;llt<lb/>
nichts in die&#x017F;en Ver&#x017F;ammlungen vor, was den<lb/>
guten Sitten zuwider wa&#x0364;re; man &#x017F;ieht &#x017F;ich<lb/>
nur, wie auf einem Marktplatz, um zu wa&#x0364;h-<lb/>
len und den Preis zu be&#x017F;timmen.</p><lb/>
          <p>Ueberall, in allen großen Sta&#x0364;dten, &#x017F;ind die<lb/><hi rendition="#g">Freudenma&#x0364;dchen</hi> ein vorzu&#x0364;glich intere&#x017F;&#x017F;an-<lb/>
ter Gegen&#x017F;tand der Karakteri&#x017F;tik; hier nicht.<lb/>
Der o&#x0364;ffentliche An&#x017F;trich von Ehrbarkeit, den<lb/>
un&#x017F;ere Sitten haben, &#x017F;chließt zwar keineswe-<lb/>
ges den mannigfaltig&#x017F;ten und aus&#x017F;chweifend&#x017F;ten<lb/>
Genuß der Liebe aus; aber er ver&#x017F;chleyert<lb/>
ihn &#x017F;o gut, daß ein &#x017F;ehr &#x017F;charfes Auge und<lb/>
eine lange Bekannt&#x017F;chaft mit un&#x017F;erer Lebens-<lb/>
art dazu geho&#x0364;rt, um das wahre Maaß und<lb/>
die Modifikationen de&#x017F;&#x017F;elben zu entdecken.<lb/>
Kein Fremder, der nur acht Tage in London,<lb/>
Paris oder Berlin verweilt und die o&#x0364;ffentli-<lb/>
chen Oerter be&#x017F;ucht hat, wird umhin ko&#x0364;nnen,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[322/0340] lichſte Beſchimpfung zu erwarten, ohne auf den Beyſtand auch nur Eines Mannes rech- nen zu duͤrfen. Selten wagen ſie es daher anders als mit der Begleitung und unter dem Schutz eines handfeſten Kerls zu erſcheinen, der die Rechte ihres Geſchlechts in Nothfaͤllen geltend zu machen verſteht. Uebrigens faͤllt nichts in dieſen Verſammlungen vor, was den guten Sitten zuwider waͤre; man ſieht ſich nur, wie auf einem Marktplatz, um zu waͤh- len und den Preis zu beſtimmen. Ueberall, in allen großen Staͤdten, ſind die Freudenmaͤdchen ein vorzuͤglich intereſſan- ter Gegenſtand der Karakteriſtik; hier nicht. Der oͤffentliche Anſtrich von Ehrbarkeit, den unſere Sitten haben, ſchließt zwar keineswe- ges den mannigfaltigſten und ausſchweifendſten Genuß der Liebe aus; aber er verſchleyert ihn ſo gut, daß ein ſehr ſcharfes Auge und eine lange Bekanntſchaft mit unſerer Lebens- art dazu gehoͤrt, um das wahre Maaß und die Modifikationen deſſelben zu entdecken. Kein Fremder, der nur acht Tage in London, Paris oder Berlin verweilt und die oͤffentli- chen Oerter beſucht hat, wird umhin koͤnnen,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/340
Zitationshilfe: Storch, Heinrich Friedrich von: Gemählde von St. Petersburg. Bd. 2. Riga, 1794, S. 322. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/storch_petersburg02_1794/340>, abgerufen am 09.05.2024.