die Sittlichkeit vollendet sich, indem sie ihrer untergeordneten Stellung entrückt wird, zur -- Religion. Es hat dann näm¬ lich das bisher dem höchsten untergeordnete höhere Wesen, der Mensch, die absolute Höhe erstiegen, und Wir verhalten Uns zu ihm als zum höchsten Wesen, d. h. religiös. Sittlichkeit und Frömmigkeit sind nun eben so synonym, als im Anfang des Christenthums, und nur weil das höchste Wesen ein an¬ deres geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein "heiliger", sondern ein "menschlicher". Hat die Sittlichkeit gesiegt, so ist ein vollständiger -- Herrenwechsel eingetreten.
Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach in die vermeintlich sichere Bucht der Liebe einzulaufen. "Das höchste und erste Gesetz muß die Liebe des Menschen zum Men¬ schen sein. Homo homini Deus est -- dieß ist der oberste prak¬ tische Grundsatz -- dieß der Wendepunkt der Weltgeschichte." *) Eigentlich ist aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe ist geblieben; dort Liebe zum übermenschlichen Gott, hier Liebe zum menschlichen Gott, zum homo als Deus. Also der Mensch ist Mir -- heilig. Und alles "wahrhaft Menschliche" ist Mir -- heilig! "Die Ehe ist durch sich selbst heilig. Und so ist es mit allen sittlichen Verhältnissen. Heilig ist und sei Dir die Freund¬ schaft, heilig das Eigenthum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menschen, aber heilig an und für sich selbst." **) Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Der Mensch? Was das Göttliche? Das Menschliche! So hat sich allerdings das Prädicat nur ins Subject verwandelt, und statt des Satzes "Gott ist die Liebe" heißt es "die Liebe ist göttlich", statt "Gott ist Mensch geworden" -- "der Mensch
*) Wesen des Christenthums, zweite Auflage. S. 402.
**) S. 403.
die Sittlichkeit vollendet ſich, indem ſie ihrer untergeordneten Stellung entrückt wird, zur — Religion. Es hat dann näm¬ lich das bisher dem höchſten untergeordnete höhere Weſen, der Menſch, die abſolute Höhe erſtiegen, und Wir verhalten Uns zu ihm als zum höchſten Weſen, d. h. religiös. Sittlichkeit und Frömmigkeit ſind nun eben ſo ſynonym, als im Anfang des Chriſtenthums, und nur weil das höchſte Weſen ein an¬ deres geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein „heiliger“, ſondern ein „menſchlicher“. Hat die Sittlichkeit geſiegt, ſo iſt ein vollſtändiger — Herrenwechſel eingetreten.
Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach in die vermeintlich ſichere Bucht der Liebe einzulaufen. „Das höchſte und erſte Geſetz muß die Liebe des Menſchen zum Men¬ ſchen ſein. Homo homini Deus est — dieß iſt der oberſte prak¬ tiſche Grundſatz — dieß der Wendepunkt der Weltgeſchichte.“ *) Eigentlich iſt aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe iſt geblieben; dort Liebe zum übermenſchlichen Gott, hier Liebe zum menſchlichen Gott, zum homo als Deus. Alſo der Menſch iſt Mir — heilig. Und alles „wahrhaft Menſchliche“ iſt Mir — heilig! „Die Ehe iſt durch ſich ſelbſt heilig. Und ſo iſt es mit allen ſittlichen Verhältniſſen. Heilig iſt und ſei Dir die Freund¬ ſchaft, heilig das Eigenthum, heilig die Ehe, heilig das Wohl jedes Menſchen, aber heilig an und für ſich ſelbſt.“ **) Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer iſt ſein Gott? Der Menſch? Was das Göttliche? Das Menſchliche! So hat ſich allerdings das Prädicat nur ins Subject verwandelt, und ſtatt des Satzes „Gott iſt die Liebe“ heißt es „die Liebe iſt göttlich“, ſtatt „Gott iſt Menſch geworden“ — „der Menſch
*) Weſen des Chriſtenthums, zweite Auflage. S. 402.
**) S. 403.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0084"n="76"/>
die Sittlichkeit vollendet ſich, indem ſie ihrer untergeordneten<lb/>
Stellung entrückt wird, zur — Religion. Es hat dann näm¬<lb/>
lich das bisher dem höchſten untergeordnete höhere Weſen, der<lb/>
Menſch, die abſolute Höhe erſtiegen, und Wir verhalten Uns<lb/>
zu ihm als zum höchſten Weſen, d. h. religiös. Sittlichkeit<lb/>
und Frömmigkeit ſind nun eben ſo ſynonym, als im Anfang<lb/>
des Chriſtenthums, und nur weil das höchſte Weſen ein an¬<lb/>
deres geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein<lb/>„heiliger“, ſondern ein „menſchlicher“. Hat die Sittlichkeit<lb/>
geſiegt, ſo iſt ein vollſtändiger —<hirendition="#g">Herrenwechſel</hi> eingetreten.</p><lb/><p>Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach<lb/>
in die vermeintlich ſichere Bucht der <hirendition="#g">Liebe</hi> einzulaufen. „Das<lb/>
höchſte und erſte Geſetz muß die Liebe des Menſchen zum Men¬<lb/>ſchen ſein. <hirendition="#aq">Homo homini Deus est</hi>— dieß iſt der oberſte prak¬<lb/>
tiſche Grundſatz — dieß der Wendepunkt der Weltgeſchichte.“<noteplace="foot"n="*)"><lb/>
Weſen des Chriſtenthums, zweite Auflage. S. 402.</note><lb/>
Eigentlich iſt aber nur der Gott verändert, der <hirendition="#aq">Deus</hi>, die Liebe iſt<lb/>
geblieben; dort Liebe zum übermenſchlichen Gott, hier Liebe zum<lb/>
menſchlichen Gott, zum <hirendition="#aq">homo</hi> als <hirendition="#aq">Deus</hi>. Alſo der Menſch iſt<lb/>
Mir — heilig. Und alles „wahrhaft Menſchliche“ iſt Mir —<lb/>
heilig! „Die Ehe iſt durch ſich ſelbſt heilig. Und ſo iſt es mit allen<lb/>ſittlichen Verhältniſſen. <hirendition="#g">Heilig</hi> iſt und ſei Dir die Freund¬<lb/>ſchaft, heilig das Eigenthum, heilig die Ehe, heilig das Wohl<lb/>
jedes Menſchen, aber heilig <hirendition="#g">an und für ſich</hi>ſelbſt.“<noteplace="foot"n="**)"><lb/>
S. 403.</note><lb/>
Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer iſt ſein Gott?<lb/><hirendition="#g">Der</hi> Menſch? Was das Göttliche? Das Menſchliche! So<lb/>
hat ſich allerdings das Prädicat nur ins Subject verwandelt,<lb/>
und ſtatt des Satzes „Gott iſt die Liebe“ heißt es „die Liebe<lb/>
iſt göttlich“, ſtatt „Gott iſt Menſch geworden“—„der Menſch<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[76/0084]
die Sittlichkeit vollendet ſich, indem ſie ihrer untergeordneten
Stellung entrückt wird, zur — Religion. Es hat dann näm¬
lich das bisher dem höchſten untergeordnete höhere Weſen, der
Menſch, die abſolute Höhe erſtiegen, und Wir verhalten Uns
zu ihm als zum höchſten Weſen, d. h. religiös. Sittlichkeit
und Frömmigkeit ſind nun eben ſo ſynonym, als im Anfang
des Chriſtenthums, und nur weil das höchſte Weſen ein an¬
deres geworden, heißt ein heiliger Wandel nicht mehr ein
„heiliger“, ſondern ein „menſchlicher“. Hat die Sittlichkeit
geſiegt, ſo iſt ein vollſtändiger — Herrenwechſel eingetreten.
Nach der Vernichtung des Glaubens wähnt Feuerbach
in die vermeintlich ſichere Bucht der Liebe einzulaufen. „Das
höchſte und erſte Geſetz muß die Liebe des Menſchen zum Men¬
ſchen ſein. Homo homini Deus est — dieß iſt der oberſte prak¬
tiſche Grundſatz — dieß der Wendepunkt der Weltgeſchichte.“ *)
Eigentlich iſt aber nur der Gott verändert, der Deus, die Liebe iſt
geblieben; dort Liebe zum übermenſchlichen Gott, hier Liebe zum
menſchlichen Gott, zum homo als Deus. Alſo der Menſch iſt
Mir — heilig. Und alles „wahrhaft Menſchliche“ iſt Mir —
heilig! „Die Ehe iſt durch ſich ſelbſt heilig. Und ſo iſt es mit allen
ſittlichen Verhältniſſen. Heilig iſt und ſei Dir die Freund¬
ſchaft, heilig das Eigenthum, heilig die Ehe, heilig das Wohl
jedes Menſchen, aber heilig an und für ſich ſelbſt.“ **)
Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer iſt ſein Gott?
Der Menſch? Was das Göttliche? Das Menſchliche! So
hat ſich allerdings das Prädicat nur ins Subject verwandelt,
und ſtatt des Satzes „Gott iſt die Liebe“ heißt es „die Liebe
iſt göttlich“, ſtatt „Gott iſt Menſch geworden“ — „der Menſch
*)
Weſen des Chriſtenthums, zweite Auflage. S. 402.
**)
S. 403.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 76. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/84>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.