Mensch mehr. Man sollte sich doch durch solche Erscheinungen, die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den seltenen ge¬ hören, nicht irre führen lassen, und bedenken, daß, wer der Sittlichkeit etwas vergiebt, so wenig zu den wahrhaft Sittlichen gezählt werden kann, als Lessing, der in der bekannten Para¬ bel die christliche Religion, so gut als die muhamedanische und jüdische, einem "unächten Ringe" vergleicht, ein frommer Christ war. Oft sind die Leute schon weiter, als sie sich's zu gestehen getrauen. -- Für Sokrates wäre es, weil er auf der Bildungsstufe der Sittlichkeit stand, eine Unsittlichkeit ge¬ wesen, wenn er der verführerischen Zusprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬ krates -- ein sittlicher Mensch war. Die "sittenlosen, ruchlosen" Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue ge¬ schworen, und decretirten seine Absetzung, ja seinen Tod, die That war aber eine unsittliche, worüber die Sittlichen sich in alle Ewigkeit entsetzen werden.
Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die "bür¬ gerliche Sittlichkeit", auf welche die Freieren mit Verachtung herabsehen. Sie ist nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimischer Boden, von dem religiösen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Gesetze desselben kritiklos und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, statt eigene und selbstständige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬ ders nimmt sich die Sittlichkeit aus, wenn sie zum Bewußtsein ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Wesen des Men¬ schen oder "den Menschen", zum einzigen Maaßgebenden erhebt.
Menſch mehr. Man ſollte ſich doch durch ſolche Erſcheinungen, die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den ſeltenen ge¬ hören, nicht irre führen laſſen, und bedenken, daß, wer der Sittlichkeit etwas vergiebt, ſo wenig zu den wahrhaft Sittlichen gezählt werden kann, als Leſſing, der in der bekannten Para¬ bel die chriſtliche Religion, ſo gut als die muhamedaniſche und jüdiſche, einem „unächten Ringe“ vergleicht, ein frommer Chriſt war. Oft ſind die Leute ſchon weiter, als ſie ſich's zu geſtehen getrauen. — Für Sokrates wäre es, weil er auf der Bildungsſtufe der Sittlichkeit ſtand, eine Unſittlichkeit ge¬ weſen, wenn er der verführeriſchen Zuſprache Kritons hätte folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬ krates — ein ſittlicher Menſch war. Die „ſittenloſen, ruchloſen“ Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue ge¬ ſchworen, und decretirten ſeine Abſetzung, ja ſeinen Tod, die That war aber eine unſittliche, worüber die Sittlichen ſich in alle Ewigkeit entſetzen werden.
Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die „bür¬ gerliche Sittlichkeit“, auf welche die Freieren mit Verachtung herabſehen. Sie iſt nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit, ihr heimiſcher Boden, von dem religiöſen Himmel noch zu wenig entfernt und frei, um nicht die Geſetze deſſelben kritiklos und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen, ſtatt eigene und ſelbſtſtändige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬ ders nimmt ſich die Sittlichkeit aus, wenn ſie zum Bewußtſein ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Weſen des Men¬ ſchen oder „den Menſchen“, zum einzigen Maaßgebenden erhebt.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><p><pbfacs="#f0082"n="74"/>
Menſch mehr. Man ſollte ſich doch durch ſolche Erſcheinungen,<lb/>
die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den ſeltenen ge¬<lb/>
hören, nicht irre führen laſſen, und bedenken, daß, wer der<lb/>
Sittlichkeit etwas vergiebt, ſo wenig zu den wahrhaft Sittlichen<lb/>
gezählt werden kann, als Leſſing, der in der bekannten Para¬<lb/>
bel die chriſtliche Religion, ſo gut als die muhamedaniſche<lb/>
und jüdiſche, einem „unächten Ringe“ vergleicht, ein frommer<lb/>
Chriſt war. Oft ſind die Leute ſchon weiter, als ſie ſich's<lb/>
zu geſtehen getrauen. — Für Sokrates wäre es, weil er auf<lb/>
der Bildungsſtufe der Sittlichkeit ſtand, eine Unſittlichkeit ge¬<lb/>
weſen, wenn er der verführeriſchen Zuſprache Kritons hätte<lb/>
folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das<lb/>
einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬<lb/>
krates — ein ſittlicher Menſch war. Die „ſittenloſen, ruchloſen“<lb/>
Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig <hirendition="#aq">XVI</hi>. Treue ge¬<lb/>ſchworen, und decretirten ſeine Abſetzung, ja ſeinen Tod, die<lb/>
That war aber eine unſittliche, worüber die Sittlichen ſich in<lb/>
alle Ewigkeit entſetzen werden.</p><lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p>Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die „bür¬<lb/>
gerliche Sittlichkeit“, auf welche die Freieren mit Verachtung<lb/>
herabſehen. Sie iſt nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit,<lb/>
ihr heimiſcher Boden, von dem religiöſen Himmel noch zu<lb/>
wenig entfernt und frei, um nicht die Geſetze deſſelben kritiklos<lb/>
und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen,<lb/>ſtatt eigene und ſelbſtſtändige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬<lb/>
ders nimmt ſich die Sittlichkeit aus, wenn ſie zum Bewußtſein<lb/>
ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Weſen des Men¬<lb/>ſchen oder „den Menſchen“, zum einzigen Maaßgebenden erhebt.<lb/></p></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[74/0082]
Menſch mehr. Man ſollte ſich doch durch ſolche Erſcheinungen,
die heutiges Tages allerdings nicht mehr zu den ſeltenen ge¬
hören, nicht irre führen laſſen, und bedenken, daß, wer der
Sittlichkeit etwas vergiebt, ſo wenig zu den wahrhaft Sittlichen
gezählt werden kann, als Leſſing, der in der bekannten Para¬
bel die chriſtliche Religion, ſo gut als die muhamedaniſche
und jüdiſche, einem „unächten Ringe“ vergleicht, ein frommer
Chriſt war. Oft ſind die Leute ſchon weiter, als ſie ſich's
zu geſtehen getrauen. — Für Sokrates wäre es, weil er auf
der Bildungsſtufe der Sittlichkeit ſtand, eine Unſittlichkeit ge¬
weſen, wenn er der verführeriſchen Zuſprache Kritons hätte
folgen und dem Kerker entrinnen wollen; zu bleiben war das
einzig Sittliche. Allein es war es lediglich darum, weil So¬
krates — ein ſittlicher Menſch war. Die „ſittenloſen, ruchloſen“
Revolutionsmänner dagegen hatten Ludwig XVI. Treue ge¬
ſchworen, und decretirten ſeine Abſetzung, ja ſeinen Tod, die
That war aber eine unſittliche, worüber die Sittlichen ſich in
alle Ewigkeit entſetzen werden.
Mehr oder weniger trifft jedoch dieß alles nur die „bür¬
gerliche Sittlichkeit“, auf welche die Freieren mit Verachtung
herabſehen. Sie iſt nämlich, wie überhaupt die Bürgerlichkeit,
ihr heimiſcher Boden, von dem religiöſen Himmel noch zu
wenig entfernt und frei, um nicht die Geſetze deſſelben kritiklos
und ohne Weiteres nur auf ihr Gebiet herüber zu verpflanzen,
ſtatt eigene und ſelbſtſtändige Lehren zu erzeugen. Ganz an¬
ders nimmt ſich die Sittlichkeit aus, wenn ſie zum Bewußtſein
ihrer Würde gelangt, und ihr Princip, das Weſen des Men¬
ſchen oder „den Menſchen“, zum einzigen Maaßgebenden erhebt.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 74. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/82>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.