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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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Dasein. Fortan graut dem Menschen nicht eigentlich mehr vor
Gespenstern außer ihm, sondern vor ihm selber: er erschrickt
vor sich selbst. In der Tiefe seiner Brust wohnt der Geist
der Sünde
, schon der leiseste Gedanke (und dieser ist ja
selber ein Geist) kann ein Teufel sein u. s. w. -- Das Ge¬
spenst hat einen Leib angezogen, der Gott ist Mensch gewor¬
den, aber der Mensch ist nun selbst der grausige Spuk, hinter
den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirk¬
lichkeit und zum Reden zu bringen sucht: der Mensch ist --
Geist. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geist
gerettet wird: auf den Geist kommt Alles an, und das Gei¬
stes- oder "Seelenheil" wird alleiniges Augenmerk. Der Mensch
ist sich selbst ein Gespenst, ein unheimlicher Spuk geworden,
dem sogar ein bestimmter Sitz im Leibe angewiesen wird (Streit
über den Sitz der Seele, ob im Kopfe u. s. w.).

Du bist Mir und Ich bin Dir kein höheres Wesen. Gleich¬
wohl kann in jedem von Uns ein höheres Wesen stecken, und
die gegenseitige Verehrung desselben hervorrufen. Um gleich das
Allgemeinste zu nehmen, so lebt in Dir und Mir der Mensch.
Sähe Ich in Dir nicht den Menschen, was hätte Ich Dich
zu achten? Du bist freilich nicht der Mensch und seine wahre
und adäquate Gestalt, sondern nur eine sterbliche Hülle dessel¬
ben, aus welcher er ausscheiden kann, ohne selbst aufzuhören;
aber für jetzt haust dieses allgemeine und höhere Wesen doch
in Dir und Du vergegenwärtigst Mir, weil ein unvergängli¬
cher Geist in Dir einen vergänglichen Leib angenommen hat,
mithin Deine Gestalt wirklich nur eine "angenommene" ist,
einen Geist, der erscheint, in Dir erscheint, ohne an Deinen
Leib und diese bestimmte Erscheinungsweise gebündelt zu sein,
also einen Spuk. Darum betrachte Ich nicht Dich als ein

Daſein. Fortan graut dem Menſchen nicht eigentlich mehr vor
Geſpenſtern außer ihm, ſondern vor ihm ſelber: er erſchrickt
vor ſich ſelbſt. In der Tiefe ſeiner Bruſt wohnt der Geiſt
der Sünde
, ſchon der leiſeſte Gedanke (und dieſer iſt ja
ſelber ein Geiſt) kann ein Teufel ſein u. ſ. w. — Das Ge¬
ſpenſt hat einen Leib angezogen, der Gott iſt Menſch gewor¬
den, aber der Menſch iſt nun ſelbſt der grauſige Spuk, hinter
den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirk¬
lichkeit und zum Reden zu bringen ſucht: der Menſch iſt —
Geiſt. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geiſt
gerettet wird: auf den Geiſt kommt Alles an, und das Gei¬
ſtes- oder „Seelenheil“ wird alleiniges Augenmerk. Der Menſch
iſt ſich ſelbſt ein Geſpenſt, ein unheimlicher Spuk geworden,
dem ſogar ein beſtimmter Sitz im Leibe angewieſen wird (Streit
über den Sitz der Seele, ob im Kopfe u. ſ. w.).

Du biſt Mir und Ich bin Dir kein höheres Weſen. Gleich¬
wohl kann in jedem von Uns ein höheres Weſen ſtecken, und
die gegenſeitige Verehrung deſſelben hervorrufen. Um gleich das
Allgemeinſte zu nehmen, ſo lebt in Dir und Mir der Menſch.
Sähe Ich in Dir nicht den Menſchen, was hätte Ich Dich
zu achten? Du biſt freilich nicht der Menſch und ſeine wahre
und adäquate Geſtalt, ſondern nur eine ſterbliche Hülle deſſel¬
ben, aus welcher er ausſcheiden kann, ohne ſelbſt aufzuhören;
aber für jetzt hauſt dieſes allgemeine und höhere Weſen doch
in Dir und Du vergegenwärtigſt Mir, weil ein unvergängli¬
cher Geiſt in Dir einen vergänglichen Leib angenommen hat,
mithin Deine Geſtalt wirklich nur eine „angenommene“ iſt,
einen Geiſt, der erſcheint, in Dir erſcheint, ohne an Deinen
Leib und dieſe beſtimmte Erſcheinungsweiſe gebündelt zu ſein,
alſo einen Spuk. Darum betrachte Ich nicht Dich als ein

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[55/0063] Daſein. Fortan graut dem Menſchen nicht eigentlich mehr vor Geſpenſtern außer ihm, ſondern vor ihm ſelber: er erſchrickt vor ſich ſelbſt. In der Tiefe ſeiner Bruſt wohnt der Geiſt der Sünde, ſchon der leiſeſte Gedanke (und dieſer iſt ja ſelber ein Geiſt) kann ein Teufel ſein u. ſ. w. — Das Ge¬ ſpenſt hat einen Leib angezogen, der Gott iſt Menſch gewor¬ den, aber der Menſch iſt nun ſelbſt der grauſige Spuk, hinter den er zu kommen, den er zu bannen, zu ergründen, zur Wirk¬ lichkeit und zum Reden zu bringen ſucht: der Menſch iſt — Geiſt. Mag auch der Leib verdorren, wenn nur der Geiſt gerettet wird: auf den Geiſt kommt Alles an, und das Gei¬ ſtes- oder „Seelenheil“ wird alleiniges Augenmerk. Der Menſch iſt ſich ſelbſt ein Geſpenſt, ein unheimlicher Spuk geworden, dem ſogar ein beſtimmter Sitz im Leibe angewieſen wird (Streit über den Sitz der Seele, ob im Kopfe u. ſ. w.). Du biſt Mir und Ich bin Dir kein höheres Weſen. Gleich¬ wohl kann in jedem von Uns ein höheres Weſen ſtecken, und die gegenſeitige Verehrung deſſelben hervorrufen. Um gleich das Allgemeinſte zu nehmen, ſo lebt in Dir und Mir der Menſch. Sähe Ich in Dir nicht den Menſchen, was hätte Ich Dich zu achten? Du biſt freilich nicht der Menſch und ſeine wahre und adäquate Geſtalt, ſondern nur eine ſterbliche Hülle deſſel¬ ben, aus welcher er ausſcheiden kann, ohne ſelbſt aufzuhören; aber für jetzt hauſt dieſes allgemeine und höhere Weſen doch in Dir und Du vergegenwärtigſt Mir, weil ein unvergängli¬ cher Geiſt in Dir einen vergänglichen Leib angenommen hat, mithin Deine Geſtalt wirklich nur eine „angenommene“ iſt, einen Geiſt, der erſcheint, in Dir erſcheint, ohne an Deinen Leib und dieſe beſtimmte Erſcheinungsweiſe gebündelt zu ſein, alſo einen Spuk. Darum betrachte Ich nicht Dich als ein

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/63>, abgerufen am 20.04.2024.