Mensch" ein höheres Wesen als ein einzelner Mensch, und werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die sich aus seinem Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieses Begriffes verehrt und -- heilig gehalten werden müssen? Denn sollte man auch manche Wahrheit, welche durch diesen Begriff mani¬ festirt zu sein schien, wieder abschaffen, so zeugte dieß doch allein für ein Mißverständniß von unserer Seite, ohne im Ge¬ ringsten dem heiligen Begriffe selbst Eintrag zu thun oder den¬ jenigen Wahrheiten, welche "mit Recht" als Offenbarungen desselben angesehen werden müssen, ihre Heiligkeit zu nehmen. Der Mensch greift über jeden einzelnen Menschen hinaus und ist, obgleich "sein Wesen", in der That doch nicht sein We¬ sen, welches vielmehr so einzig wäre als er, der Einzelne, sel¬ ber, sondern ein allgemeines und "höheres", ja für die Athe¬ isten "das höchste Wesen". Und wie die göttlichen Offenba¬ rungen nicht von Gott eigenhändig niedergeschrieben, sondern durch die "Rüstzeuge des Herrn" veröffentlicht wurden, so schreibt auch das neue höchste Wesen seine Offenbarungen nicht selbst auf, sondern läßt sie durch "wahre Menschen" zu unserer Kunde gelangen. Nur verräth das neue Wesen eine in der That geistigere Auffassung als der alte Gott, weil dieser noch in einer Art von Beleibtheit oder Gestalt vorgestellt wurde, dem neuen hingegen die ungetrübte Geistigkeit erhalten und ein be¬ sonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt ihm auch die Leiblichkeit nicht, die sich sogar noch verführeri¬ scher anläßt, weil sie natürlicher und weltlicher aussieht und in nichts Geringerem besteht, als in jedem leibhaftigen Menschen oder auch schlechtweg in der "Menschheit" oder "allen Menschen". Die Spukhaftigkeit des Geistes in einem Scheinleibe ist dadurch wieder einmal recht compact und populär geworden.
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Menſch“ ein höheres Weſen als ein einzelner Menſch, und werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die ſich aus ſeinem Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieſes Begriffes verehrt und — heilig gehalten werden müſſen? Denn ſollte man auch manche Wahrheit, welche durch dieſen Begriff mani¬ feſtirt zu ſein ſchien, wieder abſchaffen, ſo zeugte dieß doch allein für ein Mißverſtändniß von unſerer Seite, ohne im Ge¬ ringſten dem heiligen Begriffe ſelbſt Eintrag zu thun oder den¬ jenigen Wahrheiten, welche „mit Recht“ als Offenbarungen deſſelben angeſehen werden müſſen, ihre Heiligkeit zu nehmen. Der Menſch greift über jeden einzelnen Menſchen hinaus und iſt, obgleich „ſein Weſen“, in der That doch nicht ſein We¬ ſen, welches vielmehr ſo einzig wäre als er, der Einzelne, ſel¬ ber, ſondern ein allgemeines und „höheres“, ja für die Athe¬ iſten „das höchſte Weſen“. Und wie die göttlichen Offenba¬ rungen nicht von Gott eigenhändig niedergeſchrieben, ſondern durch die „Rüſtzeuge des Herrn“ veröffentlicht wurden, ſo ſchreibt auch das neue höchſte Weſen ſeine Offenbarungen nicht ſelbſt auf, ſondern läßt ſie durch „wahre Menſchen“ zu unſerer Kunde gelangen. Nur verräth das neue Weſen eine in der That geiſtigere Auffaſſung als der alte Gott, weil dieſer noch in einer Art von Beleibtheit oder Geſtalt vorgeſtellt wurde, dem neuen hingegen die ungetrübte Geiſtigkeit erhalten und ein be¬ ſonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt ihm auch die Leiblichkeit nicht, die ſich ſogar noch verführeri¬ ſcher anläßt, weil ſie natürlicher und weltlicher ausſieht und in nichts Geringerem beſteht, als in jedem leibhaftigen Menſchen oder auch ſchlechtweg in der „Menſchheit“ oder „allen Menſchen“. Die Spukhaftigkeit des Geiſtes in einem Scheinleibe iſt dadurch wieder einmal recht compact und populär geworden.
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Menſch“ ein höheres Weſen als ein einzelner Menſch, und
werden die Wahrheiten, Rechte und Ideen, die ſich aus ſeinem
Begriffe ergeben, nicht als Offenbarungen eben dieſes Begriffes
verehrt und — heilig gehalten werden müſſen? Denn ſollte
man auch manche Wahrheit, welche durch dieſen Begriff mani¬
feſtirt zu ſein ſchien, wieder abſchaffen, ſo zeugte dieß doch
allein für ein Mißverſtändniß von unſerer Seite, ohne im Ge¬
ringſten dem heiligen Begriffe ſelbſt Eintrag zu thun oder den¬
jenigen Wahrheiten, welche „mit Recht“ als Offenbarungen
deſſelben angeſehen werden müſſen, ihre Heiligkeit zu nehmen.
Der Menſch greift über jeden einzelnen Menſchen hinaus und
iſt, obgleich „ſein Weſen“, in der That doch nicht ſein We¬
ſen, welches vielmehr ſo einzig wäre als er, der Einzelne, ſel¬
ber, ſondern ein allgemeines und „höheres“, ja für die Athe¬
iſten „das höchſte Weſen“. Und wie die göttlichen Offenba¬
rungen nicht von Gott eigenhändig niedergeſchrieben, ſondern
durch die „Rüſtzeuge des Herrn“ veröffentlicht wurden, ſo ſchreibt
auch das neue höchſte Weſen ſeine Offenbarungen nicht ſelbſt
auf, ſondern läßt ſie durch „wahre Menſchen“ zu unſerer
Kunde gelangen. Nur verräth das neue Weſen eine in der
That geiſtigere Auffaſſung als der alte Gott, weil dieſer noch
in einer Art von Beleibtheit oder Geſtalt vorgeſtellt wurde, dem
neuen hingegen die ungetrübte Geiſtigkeit erhalten und ein be¬
ſonderer materieller Leib nicht angedichtet wird. Gleichwohl fehlt
ihm auch die Leiblichkeit nicht, die ſich ſogar noch verführeri¬
ſcher anläßt, weil ſie natürlicher und weltlicher ausſieht und in
nichts Geringerem beſteht, als in jedem leibhaftigen Menſchen
oder auch ſchlechtweg in der „Menſchheit“ oder „allen Menſchen“.
Die Spukhaftigkeit des Geiſtes in einem Scheinleibe iſt dadurch
wieder einmal recht compact und populär geworden.
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/59>, abgerufen am 01.02.2025.
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