gabe", keine "Bestimmung", so wenig als eine Pflanze oder ein Thier einen "Beruf" hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, sich zu vollenden, aber sie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, so gut sie kann, zu genießen und zu verzehren, d. h. sie saugt so viel Säfte der Erde, so viel Luft des Aethers, so viel Licht der Sonne ein, als sie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht seine Kräfte so viel es geht: er hascht Käfer und singt nach Herzenslust. Der Blume und des Vogels Kräfte sind aber im Vergleich zu denen eines Menschen gering, und viel gewal¬ tiger wird ein Mensch, der seine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Thier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die sich äußern, wo sie sind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Aeußerung besteht und so wenig unthätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde "stille stände", nicht mehr Leben wäre. Nun könnte man dem Menschen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in diesen Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es sei des Menschen Aufgabe, seine Kraft zu gebrauchen. So ist es nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich Jeder seine Kraft, ohne dieß erst für seinen Beruf anzusehen: es gebraucht Jeder in jedem Augenblicke so viel Kraft als er besitzt. Man sagt wohl von einem Besiegten, er hätte seine Kraft mehr anspannen sollen; allein man vergißt, daß, wenn er im Augenblicke des Erliegens die Kraft gehabt hätte, seine Kräfte (z. B. Leibes¬ kräfte) anzuspannen, er es nicht unterlassen haben würde: war es auch nur die Muthlosigkeit einer Minute, so war dieß doch eine minutenlange -- Kraftlosigkeit. Die Kräfte lassen sich allerdings schärfen und vervielfältigen, besonders durch feind¬ lichen Widerstand oder befreundeten Beistand; aber wo man
gabe“, keine „Beſtimmung“, ſo wenig als eine Pflanze oder ein Thier einen „Beruf“ hat. Die Blume folgt nicht dem Berufe, ſich zu vollenden, aber ſie wendet alle ihre Kräfte auf, die Welt, ſo gut ſie kann, zu genießen und zu verzehren, d. h. ſie ſaugt ſo viel Säfte der Erde, ſo viel Luft des Aethers, ſo viel Licht der Sonne ein, als ſie bekommen und beherbergen kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht ſeine Kräfte ſo viel es geht: er haſcht Käfer und ſingt nach Herzensluſt. Der Blume und des Vogels Kräfte ſind aber im Vergleich zu denen eines Menſchen gering, und viel gewal¬ tiger wird ein Menſch, der ſeine Kräfte anwendet, in die Welt eingreifen als Blume und Thier. Einen Beruf hat er nicht, aber er hat Kräfte, die ſich äußern, wo ſie ſind, weil ihr Sein ja einzig in ihrer Aeußerung beſteht und ſo wenig unthätig verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine Sekunde „ſtille ſtände“, nicht mehr Leben wäre. Nun könnte man dem Menſchen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in dieſen Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es ſei des Menſchen Aufgabe, ſeine Kraft zu gebrauchen. So iſt es nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich Jeder ſeine Kraft, ohne dieß erſt für ſeinen Beruf anzuſehen: es gebraucht Jeder in jedem Augenblicke ſo viel Kraft als er beſitzt. Man ſagt wohl von einem Beſiegten, er hätte ſeine Kraft mehr anſpannen ſollen; allein man vergißt, daß, wenn er im Augenblicke des Erliegens die Kraft gehabt hätte, ſeine Kräfte (z. B. Leibes¬ kräfte) anzuſpannen, er es nicht unterlaſſen haben würde: war es auch nur die Muthloſigkeit einer Minute, ſo war dieß doch eine minutenlange — Kraftloſigkeit. Die Kräfte laſſen ſich allerdings ſchärfen und vervielfältigen, beſonders durch feind¬ lichen Widerſtand oder befreundeten Beiſtand; aber wo man
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gabe“, keine „Beſtimmung“, ſo wenig als eine Pflanze oder
ein Thier einen „Beruf“ hat. Die Blume folgt nicht dem
Berufe, ſich zu vollenden, aber ſie wendet alle ihre Kräfte auf,
die Welt, ſo gut ſie kann, zu genießen und zu verzehren, d. h.
ſie ſaugt ſo viel Säfte der Erde, ſo viel Luft des Aethers, ſo
viel Licht der Sonne ein, als ſie bekommen und beherbergen
kann. Der Vogel lebt keinem Berufe nach, aber er gebraucht
ſeine Kräfte ſo viel es geht: er haſcht Käfer und ſingt nach
Herzensluſt. Der Blume und des Vogels Kräfte ſind aber
im Vergleich zu denen eines Menſchen gering, und viel gewal¬
tiger wird ein Menſch, der ſeine Kräfte anwendet, in die Welt
eingreifen als Blume und Thier. Einen Beruf hat er nicht,
aber er hat Kräfte, die ſich äußern, wo ſie ſind, weil ihr Sein
ja einzig in ihrer Aeußerung beſteht und ſo wenig unthätig
verharren können als das Leben, das, wenn es auch nur eine
Sekunde „ſtille ſtände“, nicht mehr Leben wäre. Nun könnte
man dem Menſchen zurufen: gebrauche deine Kraft. Doch in
dieſen Imperativ würde der Sinn gelegt werden, es ſei des
Menſchen Aufgabe, ſeine Kraft zu gebrauchen. So iſt es
nicht. Es gebraucht vielmehr wirklich Jeder ſeine Kraft, ohne
dieß erſt für ſeinen Beruf anzuſehen: es gebraucht Jeder in
jedem Augenblicke ſo viel Kraft als er beſitzt. Man ſagt wohl
von einem Beſiegten, er hätte ſeine Kraft mehr anſpannen
ſollen; allein man vergißt, daß, wenn er im Augenblicke des
Erliegens die Kraft gehabt hätte, ſeine Kräfte (z. B. Leibes¬
kräfte) anzuſpannen, er es nicht unterlaſſen haben würde: war
es auch nur die Muthloſigkeit einer Minute, ſo war dieß doch
eine minutenlange — Kraftloſigkeit. Die Kräfte laſſen ſich
allerdings ſchärfen und vervielfältigen, beſonders durch feind¬
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 436. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/444>, abgerufen am 27.11.2024.
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