Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

Bild:
<< vorherige Seite

eine neue Gemeinde sich constituiren und von ihr aus eine
gleiche "Propaganda" betreiben. Allerdings läßt sich gegen
ein Zusammentreten kein Einwand aufbringen; um so mehr
aber muß man jeder Erneuerung der alten Fürsorge, der
Heranbildung, kurz dem Principe, aus Uns etwas zu ma¬
chen
, gleichviel ob Christen, Unterthanen oder Freie und
Menschen, entgegentreten.

Wohl kann man mit Feuerbach und Andern sagen, daß
die Religion das Menschliche aus dem Menschen hinausgerückt
und in ein Jenseits so verlegt habe, daß es dort unerreich¬
bar als ein für sich Persönliches, als ein "Gott" sein ei¬
genes Dasein führte; allein der Irrthum der Religion ist
damit keineswegs erschöpft. Man könnte sehr wohl die Per¬
sönlichkeit des entrückten Menschlichen fallen lassen, könnte
den Gott ins Göttliche verwandeln, und man bliebe dennoch
religiös. Denn das Religiöse besteht in der Unzufriedenheit
mit dem gegenwärtigen Menschen, d. h. in der Aufstel¬
lung einer zu erstrebenden "Vollkommenheit", in dem
"nach seiner Vollendung ringenden Menschen".* *)("Darum
sollt Ihr vollkommen sein, wie Euer Vater im Himmel voll¬
kommen ist". Matth. V, 48.): es besteht in der Fixirung
eines Ideals, eines Absoluten. Die Vollkommenheit ist
das "höchste Gut", der finis bonorum; das Ideal eines
Jeden ist der vollkommene Mensch, der wahre, der freie
Mensch u. s. w.

Die Bestrebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal
des "freien Menschen" aufzustellen. Könnte man's finden,
gäb's eine neue -- Religion, weil ein neues Ideal, gäbe ein

*) B. Bauer Lit. Ztg. 8, 22.
21

eine neue Gemeinde ſich conſtituiren und von ihr aus eine
gleiche „Propaganda“ betreiben. Allerdings läßt ſich gegen
ein Zuſammentreten kein Einwand aufbringen; um ſo mehr
aber muß man jeder Erneuerung der alten Fürſorge, der
Heranbildung, kurz dem Principe, aus Uns etwas zu ma¬
chen
, gleichviel ob Chriſten, Unterthanen oder Freie und
Menſchen, entgegentreten.

Wohl kann man mit Feuerbach und Andern ſagen, daß
die Religion das Menſchliche aus dem Menſchen hinausgerückt
und in ein Jenſeits ſo verlegt habe, daß es dort unerreich¬
bar als ein für ſich Perſönliches, als ein „Gott“ ſein ei¬
genes Daſein führte; allein der Irrthum der Religion iſt
damit keineswegs erſchöpft. Man könnte ſehr wohl die Per¬
ſönlichkeit des entrückten Menſchlichen fallen laſſen, könnte
den Gott ins Göttliche verwandeln, und man bliebe dennoch
religiös. Denn das Religiöſe beſteht in der Unzufriedenheit
mit dem gegenwärtigen Menſchen, d. h. in der Aufſtel¬
lung einer zu erſtrebenden „Vollkommenheit“, in dem
„nach ſeiner Vollendung ringenden Menſchen“.* *)(„Darum
ſollt Ihr vollkommen ſein, wie Euer Vater im Himmel voll¬
kommen iſt“. Matth. V, 48.): es beſteht in der Fixirung
eines Ideals, eines Abſoluten. Die Vollkommenheit iſt
das „höchſte Gut“, der finis bonorum; das Ideal eines
Jeden iſt der vollkommene Menſch, der wahre, der freie
Menſch u. ſ. w.

Die Beſtrebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal
des „freien Menſchen“ aufzuſtellen. Könnte man's finden,
gäb's eine neue — Religion, weil ein neues Ideal, gäbe ein

*) B. Bauer Lit. Ztg. 8, 22.
21
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0329" n="321"/>
eine neue <hi rendition="#g">Gemeinde</hi> &#x017F;ich con&#x017F;tituiren und von ihr aus eine<lb/>
gleiche &#x201E;Propaganda&#x201C; betreiben. Allerdings läßt &#x017F;ich gegen<lb/>
ein Zu&#x017F;ammentreten kein Einwand aufbringen; um &#x017F;o mehr<lb/>
aber muß man jeder Erneuerung der alten <hi rendition="#g">Für&#x017F;orge</hi>, der<lb/>
Heranbildung, kurz dem Principe, aus Uns <hi rendition="#g">etwas zu ma¬<lb/>
chen</hi>, gleichviel ob Chri&#x017F;ten, Unterthanen oder Freie und<lb/>
Men&#x017F;chen, entgegentreten.</p><lb/>
            <p>Wohl kann man mit Feuerbach und Andern &#x017F;agen, daß<lb/>
die Religion das Men&#x017F;chliche aus dem Men&#x017F;chen hinausgerückt<lb/>
und in ein Jen&#x017F;eits &#x017F;o verlegt habe, daß es dort unerreich¬<lb/>
bar als ein für &#x017F;ich Per&#x017F;önliches, als ein &#x201E;Gott&#x201C; &#x017F;ein ei¬<lb/>
genes Da&#x017F;ein führte; allein der Irrthum der Religion i&#x017F;t<lb/>
damit keineswegs er&#x017F;chöpft. Man könnte &#x017F;ehr wohl die Per¬<lb/>
&#x017F;önlichkeit des entrückten Men&#x017F;chlichen fallen la&#x017F;&#x017F;en, könnte<lb/>
den Gott ins Göttliche verwandeln, und man bliebe dennoch<lb/>
religiös. Denn das Religiö&#x017F;e be&#x017F;teht in der Unzufriedenheit<lb/>
mit dem <hi rendition="#g">gegenwärtigen</hi> Men&#x017F;chen, d. h. in der Auf&#x017F;tel¬<lb/>
lung einer zu er&#x017F;trebenden &#x201E;<hi rendition="#g">Vollkommenheit</hi>&#x201C;, in dem<lb/>
&#x201E;nach &#x017F;einer Vollendung ringenden Men&#x017F;chen&#x201C;.* <note place="foot" n="*)"><lb/>
B. Bauer Lit. Ztg. 8, 22.</note>(&#x201E;Darum<lb/><hi rendition="#g">&#x017F;ollt</hi> Ihr vollkommen &#x017F;ein, wie Euer Vater im Himmel voll¬<lb/>
kommen i&#x017F;t&#x201C;. Matth. <hi rendition="#aq">V</hi>, 48.): es be&#x017F;teht in der Fixirung<lb/>
eines <hi rendition="#g">Ideals</hi>, eines Ab&#x017F;oluten. Die Vollkommenheit i&#x017F;t<lb/>
das &#x201E;höch&#x017F;te Gut&#x201C;, der <hi rendition="#aq">finis bonorum</hi>; das Ideal eines<lb/>
Jeden i&#x017F;t der vollkommene Men&#x017F;ch, der wahre, der freie<lb/>
Men&#x017F;ch u. &#x017F;. w.</p><lb/>
            <p>Die Be&#x017F;trebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal<lb/>
des &#x201E;freien Men&#x017F;chen&#x201C; aufzu&#x017F;tellen. Könnte man's finden,<lb/>
gäb's eine neue &#x2014; Religion, weil ein neues Ideal, gäbe ein<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">21<lb/></fw>
</p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[321/0329] eine neue Gemeinde ſich conſtituiren und von ihr aus eine gleiche „Propaganda“ betreiben. Allerdings läßt ſich gegen ein Zuſammentreten kein Einwand aufbringen; um ſo mehr aber muß man jeder Erneuerung der alten Fürſorge, der Heranbildung, kurz dem Principe, aus Uns etwas zu ma¬ chen, gleichviel ob Chriſten, Unterthanen oder Freie und Menſchen, entgegentreten. Wohl kann man mit Feuerbach und Andern ſagen, daß die Religion das Menſchliche aus dem Menſchen hinausgerückt und in ein Jenſeits ſo verlegt habe, daß es dort unerreich¬ bar als ein für ſich Perſönliches, als ein „Gott“ ſein ei¬ genes Daſein führte; allein der Irrthum der Religion iſt damit keineswegs erſchöpft. Man könnte ſehr wohl die Per¬ ſönlichkeit des entrückten Menſchlichen fallen laſſen, könnte den Gott ins Göttliche verwandeln, und man bliebe dennoch religiös. Denn das Religiöſe beſteht in der Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Menſchen, d. h. in der Aufſtel¬ lung einer zu erſtrebenden „Vollkommenheit“, in dem „nach ſeiner Vollendung ringenden Menſchen“.* *)(„Darum ſollt Ihr vollkommen ſein, wie Euer Vater im Himmel voll¬ kommen iſt“. Matth. V, 48.): es beſteht in der Fixirung eines Ideals, eines Abſoluten. Die Vollkommenheit iſt das „höchſte Gut“, der finis bonorum; das Ideal eines Jeden iſt der vollkommene Menſch, der wahre, der freie Menſch u. ſ. w. Die Beſtrebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal des „freien Menſchen“ aufzuſtellen. Könnte man's finden, gäb's eine neue — Religion, weil ein neues Ideal, gäbe ein *) B. Bauer Lit. Ztg. 8, 22. 21

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/329
Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 321. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/329>, abgerufen am 28.04.2024.