gebraucht und selbst daran geglaubt. Allein es ist eben eine Ausflucht, um die Schuld von sich abzuwälzen, nichts weiter. Die Katholiken hielten auf den gemeinsamen Kirchenverband, und stießen jene Ketzer nur von sich, weil dieselben auf den Kirchenverband nicht so viel hielten, um ihre Ueberzeugungen ihm zu opfern; jene also hielten den Verband fest, weil der Verband, die katholische, d. h. gemeinsame und einige Kirche, ihnen heilig war; diese hingegen setzten den Verband hintan. Ebenso die Pietätslosen. Sie werden nicht ausgestoßen, son¬ dern stoßen sich aus, indem sie ihre Leidenschaft, ihren Eigen¬ willen höher achten als den Familienverband.
Nun glimmt aber zuweilen ein Wunsch in einem minder leidenschaftlichen und eigenwilligen Herzen, als das der Julie war. Die Nachgiebige bringt sich dem Familienfrieden zum Opfer. Man könnte sagen, auch hier walte der Eigennutz vor, denn der Entschluß komme aus dem Gefühl, daß die Nachgiebige sich mehr durch die Familieneinigkeit befriedigt fühle als durch die Erfüllung ihres Wunsches. Das möchte sein; aber wie, wenn ein sicheres Zeichen übrig bliebe, daß der Egoismus der Pietät geopfert worden? Wie, wenn der Wunsch, welcher gegen den Familienfrieden gerichtet war, auch nachdem er geopfert worden, wenigstens in der Erinnerung eines einem heiligen Bande gebrachten "Opfers" bliebe? Wie, wenn die Nachgiebige sich bewußt wäre, ihren Eigenwillen unbefriedigt gelassen und einer höhern Macht sich demüthig unterworfen zu haben? Unterworfen und geopfert, weil der Aberglaube der Pietät seine Herrschaft an ihr geübt hat!
Dort hat der Egoismus gesiegt, hier siegt die Pietät, und das egoistische Herz blutet; dort war der Egoismus stark, hier war er -- schwach. Die Schwachen aber, das wissen
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gebraucht und ſelbſt daran geglaubt. Allein es iſt eben eine Ausflucht, um die Schuld von ſich abzuwälzen, nichts weiter. Die Katholiken hielten auf den gemeinſamen Kirchenverband, und ſtießen jene Ketzer nur von ſich, weil dieſelben auf den Kirchenverband nicht ſo viel hielten, um ihre Ueberzeugungen ihm zu opfern; jene alſo hielten den Verband feſt, weil der Verband, die katholiſche, d. h. gemeinſame und einige Kirche, ihnen heilig war; dieſe hingegen ſetzten den Verband hintan. Ebenſo die Pietätsloſen. Sie werden nicht ausgeſtoßen, ſon¬ dern ſtoßen ſich aus, indem ſie ihre Leidenſchaft, ihren Eigen¬ willen höher achten als den Familienverband.
Nun glimmt aber zuweilen ein Wunſch in einem minder leidenſchaftlichen und eigenwilligen Herzen, als das der Julie war. Die Nachgiebige bringt ſich dem Familienfrieden zum Opfer. Man könnte ſagen, auch hier walte der Eigennutz vor, denn der Entſchluß komme aus dem Gefühl, daß die Nachgiebige ſich mehr durch die Familieneinigkeit befriedigt fühle als durch die Erfüllung ihres Wunſches. Das möchte ſein; aber wie, wenn ein ſicheres Zeichen übrig bliebe, daß der Egoismus der Pietät geopfert worden? Wie, wenn der Wunſch, welcher gegen den Familienfrieden gerichtet war, auch nachdem er geopfert worden, wenigſtens in der Erinnerung eines einem heiligen Bande gebrachten „Opfers“ bliebe? Wie, wenn die Nachgiebige ſich bewußt wäre, ihren Eigenwillen unbefriedigt gelaſſen und einer höhern Macht ſich demüthig unterworfen zu haben? Unterworfen und geopfert, weil der Aberglaube der Pietät ſeine Herrſchaft an ihr geübt hat!
Dort hat der Egoismus geſiegt, hier ſiegt die Pietät, und das egoiſtiſche Herz blutet; dort war der Egoismus ſtark, hier war er — ſchwach. Die Schwachen aber, das wiſſen
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gebraucht und ſelbſt daran geglaubt. Allein es iſt eben eine
Ausflucht, um die Schuld von ſich abzuwälzen, nichts weiter.
Die Katholiken hielten auf den gemeinſamen Kirchenverband,
und ſtießen jene Ketzer nur von ſich, weil dieſelben auf den
Kirchenverband nicht ſo viel hielten, um ihre Ueberzeugungen
ihm zu opfern; jene alſo hielten den Verband feſt, weil der
Verband, die katholiſche, d. h. gemeinſame und einige Kirche,
ihnen heilig war; dieſe hingegen ſetzten den Verband hintan.
Ebenſo die Pietätsloſen. Sie werden nicht ausgeſtoßen, ſon¬
dern ſtoßen ſich aus, indem ſie ihre Leidenſchaft, ihren Eigen¬
willen höher achten als den Familienverband.
Nun glimmt aber zuweilen ein Wunſch in einem minder
leidenſchaftlichen und eigenwilligen Herzen, als das der Julie
war. Die Nachgiebige bringt ſich dem Familienfrieden zum
Opfer. Man könnte ſagen, auch hier walte der Eigennutz
vor, denn der Entſchluß komme aus dem Gefühl, daß die
Nachgiebige ſich mehr durch die Familieneinigkeit befriedigt fühle
als durch die Erfüllung ihres Wunſches. Das möchte ſein;
aber wie, wenn ein ſicheres Zeichen übrig bliebe, daß der
Egoismus der Pietät geopfert worden? Wie, wenn der Wunſch,
welcher gegen den Familienfrieden gerichtet war, auch nachdem
er geopfert worden, wenigſtens in der Erinnerung eines einem
heiligen Bande gebrachten „Opfers“ bliebe? Wie, wenn die
Nachgiebige ſich bewußt wäre, ihren Eigenwillen unbefriedigt
gelaſſen und einer höhern Macht ſich demüthig unterworfen zu
haben? Unterworfen und geopfert, weil der Aberglaube der
Pietät ſeine Herrſchaft an ihr geübt hat!
Dort hat der Egoismus geſiegt, hier ſiegt die Pietät,
und das egoiſtiſche Herz blutet; dort war der Egoismus ſtark,
hier war er — ſchwach. Die Schwachen aber, das wiſſen
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 291. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/299>, abgerufen am 23.11.2024.
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