Wenn der Staat auf unsere Menschlichkeit rechnen muß, so ist's dasselbe, wenn man sagt: er müsse auf unsere Sitt¬ lichkeit rechnen. In einander den Menschen sehen und gegen einander als Menschen handeln, das nennt man ein sittliches Verhalten. Es ist das ganz und gar die "geistige Liebe" des Christenthums. Sehe Ich nämlich in Dir den Menschen, wie Ich in Mir den Menschen, und nichts als den Menschen sehe, so sorge Ich für Dich, wie Ich für Mich sorgen würde, denn Wir stellen ja beide nichts als den mathematischen Satz vor: A=C und B=C, folglich A=B, d. h. Ich nichts als Mensch und Du nichts als Mensch, folglich Ich und Du dasselbe. Die Sittlichkeit verträgt sich nicht mit dem Egois¬ mus, weil sie nicht Mich, sondern nur den Menschen an Mir gelten läßt. Ist aber der Staat eine Gesellschaft der Menschen, nicht ein Verein von Ichen, deren jedes nur sich im Auge hat, so kann er ohne Sittlichkeit nicht bestehen und muß auf Sittlichkeit halten.
Darum sind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde. Mir, dem Egoisten, liegt das Wohl dieser "menschlichen Ge¬ sellschaft" nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze sie nur; um sie aber vollständig benutzen zu können, verwandle Ich sie vielmehr in mein Eigenthum und mein Geschöpf, d. h. Ich vernichte sie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoisten.
Also es verräth der Staat seine Feindschaft gegen Mich dadurch, daß er fordert, Ich soll Mensch sein, was voraussetzt, daß Ich es auch nicht sein und ihm für einen "Unmen¬ schen" gelten könne: er legt Mir das Menschsein als eine Pflicht auf. Ferner verlangt er, daß Ich nichts thue, wobei er nicht bestehen könne; sein Bestand also soll Mir heilig
Wenn der Staat auf unſere Menſchlichkeit rechnen muß, ſo iſt's daſſelbe, wenn man ſagt: er müſſe auf unſere Sitt¬ lichkeit rechnen. In einander den Menſchen ſehen und gegen einander als Menſchen handeln, das nennt man ein ſittliches Verhalten. Es iſt das ganz und gar die „geiſtige Liebe“ des Chriſtenthums. Sehe Ich nämlich in Dir den Menſchen, wie Ich in Mir den Menſchen, und nichts als den Menſchen ſehe, ſo ſorge Ich für Dich, wie Ich für Mich ſorgen würde, denn Wir ſtellen ja beide nichts als den mathematiſchen Satz vor: A=C und B=C, folglich A=B, d. h. Ich nichts als Menſch und Du nichts als Menſch, folglich Ich und Du daſſelbe. Die Sittlichkeit verträgt ſich nicht mit dem Egois¬ mus, weil ſie nicht Mich, ſondern nur den Menſchen an Mir gelten läßt. Iſt aber der Staat eine Geſellſchaft der Menſchen, nicht ein Verein von Ichen, deren jedes nur ſich im Auge hat, ſo kann er ohne Sittlichkeit nicht beſtehen und muß auf Sittlichkeit halten.
Darum ſind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde. Mir, dem Egoiſten, liegt das Wohl dieſer „menſchlichen Ge¬ ſellſchaft“ nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze ſie nur; um ſie aber vollſtändig benutzen zu können, verwandle Ich ſie vielmehr in mein Eigenthum und mein Geſchöpf, d. h. Ich vernichte ſie und bilde an ihrer Stelle den Verein von Egoiſten.
Alſo es verräth der Staat ſeine Feindſchaft gegen Mich dadurch, daß er fordert, Ich ſoll Menſch ſein, was vorausſetzt, daß Ich es auch nicht ſein und ihm für einen „Unmen¬ ſchen“ gelten könne: er legt Mir das Menſchſein als eine Pflicht auf. Ferner verlangt er, daß Ich nichts thue, wobei er nicht beſtehen könne; ſein Beſtand alſo ſoll Mir heilig
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Wenn der Staat auf unſere Menſchlichkeit rechnen muß,
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einander als Menſchen handeln, das nennt man ein ſittliches
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Chriſtenthums. Sehe Ich nämlich in Dir den Menſchen, wie
Ich in Mir den Menſchen, und nichts als den Menſchen ſehe,
ſo ſorge Ich für Dich, wie Ich für Mich ſorgen würde, denn
Wir ſtellen ja beide nichts als den mathematiſchen Satz vor:
A=C und B=C, folglich A=B, d. h. Ich nichts als
Menſch und Du nichts als Menſch, folglich Ich und Du
daſſelbe. Die Sittlichkeit verträgt ſich nicht mit dem Egois¬
mus, weil ſie nicht Mich, ſondern nur den Menſchen an Mir
gelten läßt. Iſt aber der Staat eine Geſellſchaft der
Menſchen, nicht ein Verein von Ichen, deren jedes nur ſich
im Auge hat, ſo kann er ohne Sittlichkeit nicht beſtehen und
muß auf Sittlichkeit halten.
Darum ſind Wir beide, der Staat und Ich, Feinde.
Mir, dem Egoiſten, liegt das Wohl dieſer „menſchlichen Ge¬
ſellſchaft“ nicht am Herzen, Ich opfere ihr nichts, Ich benutze
ſie nur; um ſie aber vollſtändig benutzen zu können, verwandle
Ich ſie vielmehr in mein Eigenthum und mein Geſchöpf, d. h.
Ich vernichte ſie und bilde an ihrer Stelle den Verein von
Egoiſten.
Alſo es verräth der Staat ſeine Feindſchaft gegen Mich
dadurch, daß er fordert, Ich ſoll Menſch ſein, was vorausſetzt,
daß Ich es auch nicht ſein und ihm für einen „Unmen¬
ſchen“ gelten könne: er legt Mir das Menſchſein als eine
Pflicht auf. Ferner verlangt er, daß Ich nichts thue, wobei
er nicht beſtehen könne; ſein Beſtand alſo ſoll Mir heilig
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 235. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/243>, abgerufen am 27.11.2024.
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