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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845.

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um die Wahrheit zu besitzen. Diese Zeit war das Mittel¬
alter
. Mit dem gemeinen, d. h. dem dinglichen Bewußtsein,
demjenigen Bewußtsein, welches nur für Dinge oder Sinnliches
und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Unding¬
liche, Unsinnliche zu fassen. Wie man freilich auch sein Auge
anstrengt, um das Entfernte zu sehen, oder seine Hand müh¬
sam übt, bis sie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die
Tasten kunstgerecht zu greifen: so kasteite man sich selbst auf
die mannigfachste Weise, damit man fähig würde, das Ueber¬
sinnliche ganz in sich aufzunehmen. Allein, was man kasteite,
war doch nur der sinnliche Mensch, das gemeine Bewußtsein,
das sogenannte endliche oder gegenständliche Denken. Da
dieses Denken jedoch, dieser Verstand, welchen Luther unter
den Namen der Vernunft "anpfuit", der Auffassung des Gött¬
lichen unfähig ist, so trug seine Kasteiung gerade so viel dazu
bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füße Jahr
aus und Jahr ein im Tanzen übte und hoffte, sie würden auf
diesem Wege endlich Flöten blasen lernen. -- Erst Luther, mit
welchem das sogenannte Mittelalter endet, begriff, daß der
Mensch selber ein anderer werden müsse, wenn er die Wahr¬
heit auffassen wolle, nämlich eben so wahr, als die Wahrheit
selbst. Nur wer die Wahrheit schon im Glauben hat, nur
wer an sie glaubt, kann ihrer theilhaftig werden, d. h. nur
der Gläubige findet sie zugänglich und ergründet die Tiefen
derselben. Nur dasjenige Organ des Menschen, welches über¬
haupt aus den Lungen zu blasen vermag, kann auch das
Flötenblasen erreichen, und nur derjenige Mensch kann der
Wahrheit theilhaftig werden, der für sie das rechte Organ hat.
Wer nur Sinnliches, Gegenständliches, Dingliches zu denken
im Stande ist, der stellt sich auch in der Wahrheit nur Ding¬

um die Wahrheit zu beſitzen. Dieſe Zeit war das Mittel¬
alter
. Mit dem gemeinen, d. h. dem dinglichen Bewußtſein,
demjenigen Bewußtſein, welches nur für Dinge oder Sinnliches
und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Unding¬
liche, Unſinnliche zu faſſen. Wie man freilich auch ſein Auge
anſtrengt, um das Entfernte zu ſehen, oder ſeine Hand müh¬
ſam übt, bis ſie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die
Taſten kunſtgerecht zu greifen: ſo kaſteite man ſich ſelbſt auf
die mannigfachſte Weiſe, damit man fähig würde, das Ueber¬
ſinnliche ganz in ſich aufzunehmen. Allein, was man kaſteite,
war doch nur der ſinnliche Menſch, das gemeine Bewußtſein,
das ſogenannte endliche oder gegenſtändliche Denken. Da
dieſes Denken jedoch, dieſer Verſtand, welchen Luther unter
den Namen der Vernunft „anpfuit“, der Auffaſſung des Gött¬
lichen unfähig iſt, ſo trug ſeine Kaſteiung gerade ſo viel dazu
bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füße Jahr
aus und Jahr ein im Tanzen übte und hoffte, ſie würden auf
dieſem Wege endlich Flöten blaſen lernen. — Erſt Luther, mit
welchem das ſogenannte Mittelalter endet, begriff, daß der
Menſch ſelber ein anderer werden müſſe, wenn er die Wahr¬
heit auffaſſen wolle, nämlich eben ſo wahr, als die Wahrheit
ſelbſt. Nur wer die Wahrheit ſchon im Glauben hat, nur
wer an ſie glaubt, kann ihrer theilhaftig werden, d. h. nur
der Gläubige findet ſie zugänglich und ergründet die Tiefen
derſelben. Nur dasjenige Organ des Menſchen, welches über¬
haupt aus den Lungen zu blaſen vermag, kann auch das
Flötenblaſen erreichen, und nur derjenige Menſch kann der
Wahrheit theilhaftig werden, der für ſie das rechte Organ hat.
Wer nur Sinnliches, Gegenſtändliches, Dingliches zu denken
im Stande iſt, der ſtellt ſich auch in der Wahrheit nur Ding¬

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[109/0117] um die Wahrheit zu beſitzen. Dieſe Zeit war das Mittel¬ alter. Mit dem gemeinen, d. h. dem dinglichen Bewußtſein, demjenigen Bewußtſein, welches nur für Dinge oder Sinnliches und Sinnfälliges Empfänglichkeit hat, gedachte man das Unding¬ liche, Unſinnliche zu faſſen. Wie man freilich auch ſein Auge anſtrengt, um das Entfernte zu ſehen, oder ſeine Hand müh¬ ſam übt, bis ſie Fingerfertigkeit genug erlangt hat, um die Taſten kunſtgerecht zu greifen: ſo kaſteite man ſich ſelbſt auf die mannigfachſte Weiſe, damit man fähig würde, das Ueber¬ ſinnliche ganz in ſich aufzunehmen. Allein, was man kaſteite, war doch nur der ſinnliche Menſch, das gemeine Bewußtſein, das ſogenannte endliche oder gegenſtändliche Denken. Da dieſes Denken jedoch, dieſer Verſtand, welchen Luther unter den Namen der Vernunft „anpfuit“, der Auffaſſung des Gött¬ lichen unfähig iſt, ſo trug ſeine Kaſteiung gerade ſo viel dazu bei, die Wahrheit zu begreifen, als wenn man die Füße Jahr aus und Jahr ein im Tanzen übte und hoffte, ſie würden auf dieſem Wege endlich Flöten blaſen lernen. — Erſt Luther, mit welchem das ſogenannte Mittelalter endet, begriff, daß der Menſch ſelber ein anderer werden müſſe, wenn er die Wahr¬ heit auffaſſen wolle, nämlich eben ſo wahr, als die Wahrheit ſelbſt. Nur wer die Wahrheit ſchon im Glauben hat, nur wer an ſie glaubt, kann ihrer theilhaftig werden, d. h. nur der Gläubige findet ſie zugänglich und ergründet die Tiefen derſelben. Nur dasjenige Organ des Menſchen, welches über¬ haupt aus den Lungen zu blaſen vermag, kann auch das Flötenblaſen erreichen, und nur derjenige Menſch kann der Wahrheit theilhaftig werden, der für ſie das rechte Organ hat. Wer nur Sinnliches, Gegenſtändliches, Dingliches zu denken im Stande iſt, der ſtellt ſich auch in der Wahrheit nur Ding¬

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Zitationshilfe: Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/117>, abgerufen am 24.04.2024.