in einer Rede aus: "Es giebt etwas Schreckliches in der hei¬ ligen Liebe zum Vaterlande; sie ist so ausschließend, daß sie Alles ohne Erbarmen, ohne Furcht, ohne menschliche Beach¬ tung dem öffentlichen Interesse opfert. Sie stürzt Manlius in den Abgrund; sie opfert ihre Privatneigungen; sie führt Re¬ gulus nach Carthago, wirft einen Römer in den Schlund, und setzt Marat als Opfer seiner Hingebung, ins Pantheon."
Diesen Vertretern idealer oder heiliger Interessen steht nun eine Welt zahlloser "persönlicher" profaner Interessen gegenüber. Keine Idee, kein System, keine heilige Sache ist so groß, daß sie nie von diesen persönlichen Interessen über¬ boten und modificirt werden sollte. Wenn sie auch augen¬ blicklich und in Zeiten der Rage und des Fanatismus schwei¬ gen, so kommen sie doch durch "den gesunden Sinn des Vol¬ kes" bald wieder obenauf. Jene Ideen siegen erst dann voll¬ kommen, wenn sie nicht mehr gegen die persönlichen Interessen feindlich sind, d.h. wenn sie den Egoismus befriedigen.
Der Mann, der eben vor meinem Fenster Bücklinge zum Verkauf ausruft, hat ein persönliches Interesse an gutem Ab¬ satz, und wenn sein Weib oder wer sonst ihm desgleichen wünschen, so bleibt dieß gleichwohl ein persönliches Interesse. Entwendete hingegen ihm ein Dieb seinen Korb, so entstünde sogleich ein Interesse Vieler, der ganzen Stadt, des ganzen Landes, oder mit Einem Worte Aller, welche den Diebstahl verabscheuen: ein Interesse, wobei die Person des Bücklings¬ händlers gleichgültig würde, und an ihrer Statt die Kategorie des "Bestohlenen" in den Vordergrund träte. Aber auch hier könnte noch alles auf ein persönliches Interesse hinauslaufen, indem jeder Theilnehmende bedächte, daß er der Bestrafung des Diebes deshalb beitreten müsse, weil sonst das straflose
in einer Rede aus: „Es giebt etwas Schreckliches in der hei¬ ligen Liebe zum Vaterlande; ſie iſt ſo ausſchließend, daß ſie Alles ohne Erbarmen, ohne Furcht, ohne menſchliche Beach¬ tung dem öffentlichen Intereſſe opfert. Sie ſtürzt Manlius in den Abgrund; ſie opfert ihre Privatneigungen; ſie führt Re¬ gulus nach Carthago, wirft einen Römer in den Schlund, und ſetzt Marat als Opfer ſeiner Hingebung, ins Pantheon.“
Dieſen Vertretern idealer oder heiliger Intereſſen ſteht nun eine Welt zahlloſer „perſönlicher“ profaner Intereſſen gegenüber. Keine Idee, kein Syſtem, keine heilige Sache iſt ſo groß, daß ſie nie von dieſen perſönlichen Intereſſen über¬ boten und modificirt werden ſollte. Wenn ſie auch augen¬ blicklich und in Zeiten der Rage und des Fanatismus ſchwei¬ gen, ſo kommen ſie doch durch „den geſunden Sinn des Vol¬ kes“ bald wieder obenauf. Jene Ideen ſiegen erſt dann voll¬ kommen, wenn ſie nicht mehr gegen die perſönlichen Intereſſen feindlich ſind, d.h. wenn ſie den Egoismus befriedigen.
Der Mann, der eben vor meinem Fenſter Bücklinge zum Verkauf ausruft, hat ein perſönliches Intereſſe an gutem Ab¬ ſatz, und wenn ſein Weib oder wer ſonſt ihm desgleichen wünſchen, ſo bleibt dieß gleichwohl ein perſönliches Intereſſe. Entwendete hingegen ihm ein Dieb ſeinen Korb, ſo entſtünde ſogleich ein Intereſſe Vieler, der ganzen Stadt, des ganzen Landes, oder mit Einem Worte Aller, welche den Diebſtahl verabſcheuen: ein Intereſſe, wobei die Perſon des Bücklings¬ händlers gleichgültig würde, und an ihrer Statt die Kategorie des „Beſtohlenen“ in den Vordergrund träte. Aber auch hier könnte noch alles auf ein perſönliches Intereſſe hinauslaufen, indem jeder Theilnehmende bedächte, daß er der Beſtrafung des Diebes deshalb beitreten müſſe, weil ſonſt das ſtrafloſe
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in einer Rede aus: „Es giebt etwas Schreckliches in der hei¬
ligen Liebe zum Vaterlande; ſie iſt ſo ausſchließend, daß ſie
Alles ohne Erbarmen, ohne Furcht, ohne menſchliche Beach¬
tung dem öffentlichen Intereſſe opfert. Sie ſtürzt Manlius in
den Abgrund; ſie opfert ihre Privatneigungen; ſie führt Re¬
gulus nach Carthago, wirft einen Römer in den Schlund,
und ſetzt Marat als Opfer ſeiner Hingebung, ins Pantheon.“
Dieſen Vertretern idealer oder heiliger Intereſſen ſteht
nun eine Welt zahlloſer „perſönlicher“ profaner Intereſſen
gegenüber. Keine Idee, kein Syſtem, keine heilige Sache iſt
ſo groß, daß ſie nie von dieſen perſönlichen Intereſſen über¬
boten und modificirt werden ſollte. Wenn ſie auch augen¬
blicklich und in Zeiten der Rage und des Fanatismus ſchwei¬
gen, ſo kommen ſie doch durch „den geſunden Sinn des Vol¬
kes“ bald wieder obenauf. Jene Ideen ſiegen erſt dann voll¬
kommen, wenn ſie nicht mehr gegen die perſönlichen Intereſſen
feindlich ſind, d.h. wenn ſie den Egoismus befriedigen.
Der Mann, der eben vor meinem Fenſter Bücklinge zum
Verkauf ausruft, hat ein perſönliches Intereſſe an gutem Ab¬
ſatz, und wenn ſein Weib oder wer ſonſt ihm desgleichen
wünſchen, ſo bleibt dieß gleichwohl ein perſönliches Intereſſe.
Entwendete hingegen ihm ein Dieb ſeinen Korb, ſo entſtünde
ſogleich ein Intereſſe Vieler, der ganzen Stadt, des ganzen
Landes, oder mit Einem Worte Aller, welche den Diebſtahl
verabſcheuen: ein Intereſſe, wobei die Perſon des Bücklings¬
händlers gleichgültig würde, und an ihrer Statt die Kategorie
des „Beſtohlenen“ in den Vordergrund träte. Aber auch hier
könnte noch alles auf ein perſönliches Intereſſe hinauslaufen,
indem jeder Theilnehmende bedächte, daß er der Beſtrafung
des Diebes deshalb beitreten müſſe, weil ſonſt das ſtrafloſe
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Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig, 1845, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stirner_einzige_1845/109>, abgerufen am 27.11.2024.
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