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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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hatten genau etwas, was die Frauen dieser Steine
hatten, das Freie das Hohe das Einfache das Zarte
und doch das Kräftige, welches auf einen vollständig
gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen eigen¬
thümlichen Willen und eine eigenthümliche Seele.
Ich blickte auf Gustav, der noch immer neben dem
Tische stand, ob ich auch an ihm etwas Ähnliches
entdecken könnte. Er war noch nicht so entwickelt, daß
sich an ihm schon das Wesen der Gestalt aussprechen
konnte, die Züge waren noch zu rund und zu weich;
aber es däuchte mir, daß er in wenigen Jahren so
aussehen würde, wie die Jünglingsangesichter unter
den Helmen auf den Steinen aussehen, und daß er
dann Natalien noch mehr gleichen würde. Ich blickte
auch Mathilden an; aber ihre Züge waren wieder in
das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte
deßohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch sie
ausgesehen haben wie die älteren Frauen auf den
Steinen aussehen. Natalie stammte also gleichsam
aus einem Geschlechte, das vergangen war, und das
anders und selbstständiger war als das jezige. Ich
sah lange auf die Gestalt, welche beim Sprechen bald
die Augen zu uns aufschlug, bald sie wieder auf ihre
Blumen nieder senkte. Daß ihr Haupt so antik

hatten genau etwas, was die Frauen dieſer Steine
hatten, das Freie das Hohe das Einfache das Zarte
und doch das Kräftige, welches auf einen vollſtändig
gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen eigen¬
thümlichen Willen und eine eigenthümliche Seele.
Ich blickte auf Guſtav, der noch immer neben dem
Tiſche ſtand, ob ich auch an ihm etwas Ähnliches
entdecken könnte. Er war noch nicht ſo entwickelt, daß
ſich an ihm ſchon das Weſen der Geſtalt ausſprechen
konnte, die Züge waren noch zu rund und zu weich;
aber es däuchte mir, daß er in wenigen Jahren ſo
ausſehen würde, wie die Jünglingsangeſichter unter
den Helmen auf den Steinen ausſehen, und daß er
dann Natalien noch mehr gleichen würde. Ich blickte
auch Mathilden an; aber ihre Züge waren wieder in
das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte
deßohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch ſie
ausgeſehen haben wie die älteren Frauen auf den
Steinen ausſehen. Natalie ſtammte alſo gleichſam
aus einem Geſchlechte, das vergangen war, und das
anders und ſelbſtſtändiger war als das jezige. Ich
ſah lange auf die Geſtalt, welche beim Sprechen bald
die Augen zu uns aufſchlug, bald ſie wieder auf ihre
Blumen nieder ſenkte. Daß ihr Haupt ſo antik

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[304/0318] hatten genau etwas, was die Frauen dieſer Steine hatten, das Freie das Hohe das Einfache das Zarte und doch das Kräftige, welches auf einen vollſtändig gebildeten Körper hinweist, aber auch auf einen eigen¬ thümlichen Willen und eine eigenthümliche Seele. Ich blickte auf Guſtav, der noch immer neben dem Tiſche ſtand, ob ich auch an ihm etwas Ähnliches entdecken könnte. Er war noch nicht ſo entwickelt, daß ſich an ihm ſchon das Weſen der Geſtalt ausſprechen konnte, die Züge waren noch zu rund und zu weich; aber es däuchte mir, daß er in wenigen Jahren ſo ausſehen würde, wie die Jünglingsangeſichter unter den Helmen auf den Steinen ausſehen, und daß er dann Natalien noch mehr gleichen würde. Ich blickte auch Mathilden an; aber ihre Züge waren wieder in das Sanftere des Alters übergegangen; ich glaubte deßohngeachtet, vor nicht langer Zeit müßte auch ſie ausgeſehen haben wie die älteren Frauen auf den Steinen ausſehen. Natalie ſtammte alſo gleichſam aus einem Geſchlechte, das vergangen war, und das anders und ſelbſtſtändiger war als das jezige. Ich ſah lange auf die Geſtalt, welche beim Sprechen bald die Augen zu uns aufſchlug, bald ſie wieder auf ihre Blumen nieder ſenkte. Daß ihr Haupt ſo antik

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/318>, abgerufen am 22.11.2024.