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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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auch ein Angesicht betrachten, über welches Jahre hin¬
gegangen sind? Liegt nicht eine Geschichte darin, oft
eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die
ihren Widerschein auf die Züge gießt, daß wir sie mit
Rührung lesen oder ahnen? Die Jugend weist auf
die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬
genheit. Hat diese kein Recht auf unsern Antheil? Als
ich Mathilden das erste Mal sah, fiel mir das Bild
der verblühenden Rose ein, welches mein Gastfreund
von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es so
treffend fand; und später oft, wenn ich Mathilden
betrachtete, gesellte sich das Bild wieder zu meinen
Gedanken, es erregten sich neue, und es erzeugte
sich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal
gedacht, daß Mathilde aussehe, wie ein Bild der Ver¬
gebung, und später dachte ich es mir öfter. Ihr An¬
gesicht mußte sehr schön gewesen sein, vielleicht gar so
schön wie jezt Nataliens, nun ist es ganz anders;
aber es spricht leise von einer Vergangenheit, daß
wir meinen, wir müßten sie vernehmen können, und
wir vernähmen sie auch gerne, weil sie uns so an¬
ziehend scheint. Sie muß manche Neigungen gehabt
haben, sie muß manche Freuden erlebt und manches
Gut verloren haben, sie hat Schmerzen und Kummer

auch ein Angeſicht betrachten, über welches Jahre hin¬
gegangen ſind? Liegt nicht eine Geſchichte darin, oft
eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die
ihren Widerſchein auf die Züge gießt, daß wir ſie mit
Rührung leſen oder ahnen? Die Jugend weist auf
die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬
genheit. Hat dieſe kein Recht auf unſern Antheil? Als
ich Mathilden das erſte Mal ſah, fiel mir das Bild
der verblühenden Roſe ein, welches mein Gaſtfreund
von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es ſo
treffend fand; und ſpäter oft, wenn ich Mathilden
betrachtete, geſellte ſich das Bild wieder zu meinen
Gedanken, es erregten ſich neue, und es erzeugte
ſich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal
gedacht, daß Mathilde ausſehe, wie ein Bild der Ver¬
gebung, und ſpäter dachte ich es mir öfter. Ihr An¬
geſicht mußte ſehr ſchön geweſen ſein, vielleicht gar ſo
ſchön wie jezt Nataliens, nun iſt es ganz anders;
aber es ſpricht leiſe von einer Vergangenheit, daß
wir meinen, wir müßten ſie vernehmen können, und
wir vernähmen ſie auch gerne, weil ſie uns ſo an¬
ziehend ſcheint. Sie muß manche Neigungen gehabt
haben, ſie muß manche Freuden erlebt und manches
Gut verloren haben, ſie hat Schmerzen und Kummer

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[253/0267] auch ein Angeſicht betrachten, über welches Jahre hin¬ gegangen ſind? Liegt nicht eine Geſchichte darin, oft eine unbekannte voll Schmerzen oder Schönheit, die ihren Widerſchein auf die Züge gießt, daß wir ſie mit Rührung leſen oder ahnen? Die Jugend weist auf die Zukunft hin, das Alter erzählt von einer Vergan¬ genheit. Hat dieſe kein Recht auf unſern Antheil? Als ich Mathilden das erſte Mal ſah, fiel mir das Bild der verblühenden Roſe ein, welches mein Gaſtfreund von ihr gebraucht hatte, es fiel mir ein, weil ich es ſo treffend fand; und ſpäter oft, wenn ich Mathilden betrachtete, geſellte ſich das Bild wieder zu meinen Gedanken, es erregten ſich neue, und es erzeugte ſich eine ganze Folge davon. Ich hatte mir einmal gedacht, daß Mathilde ausſehe, wie ein Bild der Ver¬ gebung, und ſpäter dachte ich es mir öfter. Ihr An¬ geſicht mußte ſehr ſchön geweſen ſein, vielleicht gar ſo ſchön wie jezt Nataliens, nun iſt es ganz anders; aber es ſpricht leiſe von einer Vergangenheit, daß wir meinen, wir müßten ſie vernehmen können, und wir vernähmen ſie auch gerne, weil ſie uns ſo an¬ ziehend ſcheint. Sie muß manche Neigungen gehabt haben, ſie muß manche Freuden erlebt und manches Gut verloren haben, ſie hat Schmerzen und Kummer

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 253. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/267>, abgerufen am 22.11.2024.