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Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857.

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einfach da. Ich hatte nicht gedacht, daß das Bild so
groß sei. Ich stellte mich ihm gegenüber, und betrach¬
tete es lange. Mein Gastfreund hatte Recht, ich
konnte keine eigentliche einzelne Schönheit entdecken,
was wir im neuen Sinne Schönheit heißen, und
ich erinnerte mich auf der Treppe sogar, daß ich oft
von einem Buche oder von einem Schauspiele ja von
einem Bilde sagen gehört hatte, es sei voller Schön¬
heiten, und dem Standbilde gegenüber fiel mir ein,
wie unrecht entweder ein solcher Spruch sei, oder,
wenn er berechtigt ist, wie arm ein Werk sei, das nur
Schönheiten hat, selbst dann, wenn es voll von ihnen
ist, und das nicht selber eine Schönheit ist; denn ein
großes Werk, das sah ich jezt ein, hat keine Schön¬
heiten, und um so weniger, je einheitlicher und ein¬
ziger es ist. Ich gerieth sogar auf den Gedanken und
auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht
hatte, daß, wenn man sagt, dieser Mann diese Frau
habe eine schöne Stimme schöne Augen einen schönen
Mund, eben damit zugleich gesagt ist, das andere sei
nicht so schön; denn sonst würde man nicht Einzelnes
herausheben. Was bei einem lebenden Menschen
gilt, dachte ich, gilt bei einem Kunstwerke nicht, bei
welchem alle Theile gleich schön sein müssen, so daß

einfach da. Ich hatte nicht gedacht, daß das Bild ſo
groß ſei. Ich ſtellte mich ihm gegenüber, und betrach¬
tete es lange. Mein Gaſtfreund hatte Recht, ich
konnte keine eigentliche einzelne Schönheit entdecken,
was wir im neuen Sinne Schönheit heißen, und
ich erinnerte mich auf der Treppe ſogar, daß ich oft
von einem Buche oder von einem Schauſpiele ja von
einem Bilde ſagen gehört hatte, es ſei voller Schön¬
heiten, und dem Standbilde gegenüber fiel mir ein,
wie unrecht entweder ein ſolcher Spruch ſei, oder,
wenn er berechtigt iſt, wie arm ein Werk ſei, das nur
Schönheiten hat, ſelbſt dann, wenn es voll von ihnen
iſt, und das nicht ſelber eine Schönheit iſt; denn ein
großes Werk, das ſah ich jezt ein, hat keine Schön¬
heiten, und um ſo weniger, je einheitlicher und ein¬
ziger es iſt. Ich gerieth ſogar auf den Gedanken und
auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht
hatte, daß, wenn man ſagt, dieſer Mann dieſe Frau
habe eine ſchöne Stimme ſchöne Augen einen ſchönen
Mund, eben damit zugleich geſagt iſt, das andere ſei
nicht ſo ſchön; denn ſonſt würde man nicht Einzelnes
herausheben. Was bei einem lebenden Menſchen
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[138/0152] einfach da. Ich hatte nicht gedacht, daß das Bild ſo groß ſei. Ich ſtellte mich ihm gegenüber, und betrach¬ tete es lange. Mein Gaſtfreund hatte Recht, ich konnte keine eigentliche einzelne Schönheit entdecken, was wir im neuen Sinne Schönheit heißen, und ich erinnerte mich auf der Treppe ſogar, daß ich oft von einem Buche oder von einem Schauſpiele ja von einem Bilde ſagen gehört hatte, es ſei voller Schön¬ heiten, und dem Standbilde gegenüber fiel mir ein, wie unrecht entweder ein ſolcher Spruch ſei, oder, wenn er berechtigt iſt, wie arm ein Werk ſei, das nur Schönheiten hat, ſelbſt dann, wenn es voll von ihnen iſt, und das nicht ſelber eine Schönheit iſt; denn ein großes Werk, das ſah ich jezt ein, hat keine Schön¬ heiten, und um ſo weniger, je einheitlicher und ein¬ ziger es iſt. Ich gerieth ſogar auf den Gedanken und auf die Erfahrung, die ich mir nie klar gemacht hatte, daß, wenn man ſagt, dieſer Mann dieſe Frau habe eine ſchöne Stimme ſchöne Augen einen ſchönen Mund, eben damit zugleich geſagt iſt, das andere ſei nicht ſo ſchön; denn ſonſt würde man nicht Einzelnes herausheben. Was bei einem lebenden Menſchen gilt, dachte ich, gilt bei einem Kunſtwerke nicht, bei welchem alle Theile gleich ſchön ſein müſſen, ſo daß

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Zitationshilfe: Stifter, Adalbert: Der Nachsommer. Bd. 2. Pesth, 1857, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stifter_nachsommer02_1857/152>, abgerufen am 02.05.2024.