Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

Bild:
<< vorherige Seite

Im Jahre 1840 soll er nach Stafflers Angabe zwei Stunden ober dem Bach gestanden seyn. Bald darauf fing er wieder zu wachsen an, und als wir in Vend waren, hörten wir schon, daß der Ferner nicht mehr sehr weit vom Bache entfernt sey. Im vorigen Jahre berichteten die Zeitungen, daß man die Thalsperre sicher voraussehe. Der Gletscher wuchs im August täglich um mehr als drei Wiener Fuß. Endlich am 1 Junius heurigen Jahres schob sich der Eisdamm quer über den Bach und bald war der See wieder da, eine Viertelstunde lang und zwanzig Klafter tief. Von Innsbruck kam der Landesgouverneur mit einer Gefolgschaft sachkundiger Männer nach Vend, um das Mögliche vorzukehren. Am 14 Abends brach das Wasser durch und unter fürchterlichem Drängen und Toben war in einer Stunde der See abgelaufen. In Vend waren alle Brücken, Schneidemühlen und Scheunen am Ufer niedergeworfen, in Sölden die schönen Wiesgründe zerwühlt, viele Häuser beschädigt, Kirche und Pfarrwohnung bedroht. In gleicher Art hatte die wüthende Ache auch Lengenfeld ins Mitleid gezogen, und erst bei Umhausen verminderten sich die Spuren der Verwüstung. Der Schaden wurde auf 100,000 Gulden geschätzt. Nicodemus von Rofen hatte als Führer, Rathgeber und kecker Spion in dem gefährlichen Lager des Ferners rühmliche Dienste geleistet. Ganz auf dieselbe Weise hat sich im Jahre 1716 der Gurgelsee im nächst anliegenden Gurglerthale gebildet, zum größten Entsetzen der Einwohner, die in Processionen an den Ferner wallten und den Himmel um Rettung anflehten. Da jedoch seitdem dieser See alle Jahre unschädlich abrinnt und wieder einläuft, so haben sich die Gurgler an diesen Nachbar gewöhnt und hegen zur Zeit keine Besorgnisse mehr.

Nicodemus Klotz von Rofen ist ein Vierziger, eher klein als groß, ledig, ernsthaft, aber doch kein Feind des Scherzes. Er trägt den spitzen Hut, die braune Jacke und die braunen dicken Strümpfe, die Tracht der Oetzthaler, und dabei spricht er ein alterthümelndes, wenig abgeschliffenes Deutsch, von jener scharfkantigen Art, wie es in den innersten Thälern gewöhnlich erklingt. Er rühmt sich der einzige Mann der Gemeinde

Im Jahre 1840 soll er nach Stafflers Angabe zwei Stunden ober dem Bach gestanden seyn. Bald darauf fing er wieder zu wachsen an, und als wir in Vend waren, hörten wir schon, daß der Ferner nicht mehr sehr weit vom Bache entfernt sey. Im vorigen Jahre berichteten die Zeitungen, daß man die Thalsperre sicher voraussehe. Der Gletscher wuchs im August täglich um mehr als drei Wiener Fuß. Endlich am 1 Junius heurigen Jahres schob sich der Eisdamm quer über den Bach und bald war der See wieder da, eine Viertelstunde lang und zwanzig Klafter tief. Von Innsbruck kam der Landesgouverneur mit einer Gefolgschaft sachkundiger Männer nach Vend, um das Mögliche vorzukehren. Am 14 Abends brach das Wasser durch und unter fürchterlichem Drängen und Toben war in einer Stunde der See abgelaufen. In Vend waren alle Brücken, Schneidemühlen und Scheunen am Ufer niedergeworfen, in Sölden die schönen Wiesgründe zerwühlt, viele Häuser beschädigt, Kirche und Pfarrwohnung bedroht. In gleicher Art hatte die wüthende Ache auch Lengenfeld ins Mitleid gezogen, und erst bei Umhausen verminderten sich die Spuren der Verwüstung. Der Schaden wurde auf 100,000 Gulden geschätzt. Nicodemus von Rofen hatte als Führer, Rathgeber und kecker Spion in dem gefährlichen Lager des Ferners rühmliche Dienste geleistet. Ganz auf dieselbe Weise hat sich im Jahre 1716 der Gurgelsee im nächst anliegenden Gurglerthale gebildet, zum größten Entsetzen der Einwohner, die in Processionen an den Ferner wallten und den Himmel um Rettung anflehten. Da jedoch seitdem dieser See alle Jahre unschädlich abrinnt und wieder einläuft, so haben sich die Gurgler an diesen Nachbar gewöhnt und hegen zur Zeit keine Besorgnisse mehr.

Nicodemus Klotz von Rofen ist ein Vierziger, eher klein als groß, ledig, ernsthaft, aber doch kein Feind des Scherzes. Er trägt den spitzen Hut, die braune Jacke und die braunen dicken Strümpfe, die Tracht der Oetzthaler, und dabei spricht er ein alterthümelndes, wenig abgeschliffenes Deutsch, von jener scharfkantigen Art, wie es in den innersten Thälern gewöhnlich erklingt. Er rühmt sich der einzige Mann der Gemeinde

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0238" n="234"/>
Im Jahre 1840 soll er nach Stafflers Angabe zwei Stunden ober dem Bach gestanden seyn. Bald darauf fing er wieder zu wachsen an, und als wir in Vend waren, hörten wir schon, daß der Ferner nicht mehr sehr weit vom Bache entfernt sey. Im vorigen Jahre berichteten die Zeitungen, daß man die Thalsperre sicher voraussehe. Der Gletscher wuchs im August täglich um mehr als drei Wiener Fuß. Endlich am 1 Junius heurigen Jahres schob sich der Eisdamm quer über den Bach und bald war der See wieder da, eine Viertelstunde lang und zwanzig Klafter tief. Von Innsbruck kam der Landesgouverneur mit einer Gefolgschaft sachkundiger Männer nach Vend, um das Mögliche vorzukehren. Am 14 Abends brach das Wasser durch und unter fürchterlichem Drängen und Toben war in einer Stunde der See abgelaufen. In Vend waren alle Brücken, Schneidemühlen und Scheunen am Ufer niedergeworfen, in Sölden die schönen Wiesgründe zerwühlt, viele Häuser beschädigt, Kirche und Pfarrwohnung bedroht. In gleicher Art hatte die wüthende Ache auch Lengenfeld ins Mitleid gezogen, und erst bei Umhausen verminderten sich die Spuren der Verwüstung. Der Schaden wurde auf 100,000 Gulden geschätzt. Nicodemus von Rofen hatte als Führer, Rathgeber und kecker Spion in dem gefährlichen Lager des Ferners rühmliche Dienste geleistet. Ganz auf dieselbe Weise hat sich im Jahre 1716 der Gurgelsee im nächst anliegenden Gurglerthale gebildet, zum größten Entsetzen der Einwohner, die in Processionen an den Ferner wallten und den Himmel um Rettung anflehten. Da jedoch seitdem dieser See alle Jahre unschädlich abrinnt und wieder einläuft, so haben sich die Gurgler an diesen Nachbar gewöhnt und hegen zur Zeit keine Besorgnisse mehr.</p>
        <p>Nicodemus Klotz von Rofen ist ein Vierziger, eher klein als groß, ledig, ernsthaft, aber doch kein Feind des Scherzes. Er trägt den spitzen Hut, die braune Jacke und die braunen dicken Strümpfe, die Tracht der Oetzthaler, und dabei spricht er ein alterthümelndes, wenig abgeschliffenes Deutsch, von jener scharfkantigen Art, wie es in den innersten Thälern gewöhnlich erklingt. Er rühmt sich der einzige Mann der Gemeinde
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[234/0238] Im Jahre 1840 soll er nach Stafflers Angabe zwei Stunden ober dem Bach gestanden seyn. Bald darauf fing er wieder zu wachsen an, und als wir in Vend waren, hörten wir schon, daß der Ferner nicht mehr sehr weit vom Bache entfernt sey. Im vorigen Jahre berichteten die Zeitungen, daß man die Thalsperre sicher voraussehe. Der Gletscher wuchs im August täglich um mehr als drei Wiener Fuß. Endlich am 1 Junius heurigen Jahres schob sich der Eisdamm quer über den Bach und bald war der See wieder da, eine Viertelstunde lang und zwanzig Klafter tief. Von Innsbruck kam der Landesgouverneur mit einer Gefolgschaft sachkundiger Männer nach Vend, um das Mögliche vorzukehren. Am 14 Abends brach das Wasser durch und unter fürchterlichem Drängen und Toben war in einer Stunde der See abgelaufen. In Vend waren alle Brücken, Schneidemühlen und Scheunen am Ufer niedergeworfen, in Sölden die schönen Wiesgründe zerwühlt, viele Häuser beschädigt, Kirche und Pfarrwohnung bedroht. In gleicher Art hatte die wüthende Ache auch Lengenfeld ins Mitleid gezogen, und erst bei Umhausen verminderten sich die Spuren der Verwüstung. Der Schaden wurde auf 100,000 Gulden geschätzt. Nicodemus von Rofen hatte als Führer, Rathgeber und kecker Spion in dem gefährlichen Lager des Ferners rühmliche Dienste geleistet. Ganz auf dieselbe Weise hat sich im Jahre 1716 der Gurgelsee im nächst anliegenden Gurglerthale gebildet, zum größten Entsetzen der Einwohner, die in Processionen an den Ferner wallten und den Himmel um Rettung anflehten. Da jedoch seitdem dieser See alle Jahre unschädlich abrinnt und wieder einläuft, so haben sich die Gurgler an diesen Nachbar gewöhnt und hegen zur Zeit keine Besorgnisse mehr. Nicodemus Klotz von Rofen ist ein Vierziger, eher klein als groß, ledig, ernsthaft, aber doch kein Feind des Scherzes. Er trägt den spitzen Hut, die braune Jacke und die braunen dicken Strümpfe, die Tracht der Oetzthaler, und dabei spricht er ein alterthümelndes, wenig abgeschliffenes Deutsch, von jener scharfkantigen Art, wie es in den innersten Thälern gewöhnlich erklingt. Er rühmt sich der einzige Mann der Gemeinde

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-05T13:27:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-05T13:27:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-05T13:27:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Geviertstriche werden als Halbgeviertstriche wiedergegeben.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/238
Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 234. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/238>, abgerufen am 19.05.2024.