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Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846.

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räthselhaft vor. Ist darin das Tagebuch des hebräischen Touristen, das der Vielgeprüpfte im Bauche des Haien zusammengestellt und das er nun sich freut der Oeffentlichkeit übergeben zu können - ist er also hier in derselben Lage, wie Camoens, als er schwimmend seine Lusiaden rettete? oder was hat die Depesche zu besagen? Immerhin scheint der Brief in der Symbolik der bäuerlichen Kirchenmaler seine tiefere Bedeutung zu haben. Auch in der Capelle unter der Westeck zu Riezlern sieht man auf einer Votivtafel einen Herrn aus dem vorigen Jahrhundert mit einem ehrwürdigen Haarbeutel und sorgenvollen Angesichte, der auf einem Betstuhle kniet und der heiligen Jungfrau Maria, die ober ihm in den Wolken schwebt, ein versiegeltes Schreiben hinaufreicht, und es scheint als strecke sie die Hand aus, um dasselbe gnädig entgegenzunehmen. Derlei Darstellungen findet man auch noch hie und da an andern Orten, aber sie sind alle aus älteren Zeiten, und in unsern Tagen scheint selbst die Tradition verloren zu seyn, was die gestorbenen Leute mit dem Briefe gewollt. Eine Aeußerung hörten wir zwar, die uns als verbürgte Erklärung mitgetheilt wurde, und die darauf hinausging, der Brief bedeute einen Proceß und die Insinuation desselben an die Himmelskönigin geschehe, um sie gewißermassen ad litem zu citiren. Diese Deutung mag, abgesehen von dem Briefe des Propheten Jonas in Gaschura, das Richtige seyn, aber warum werden jetzt keine solchen Briefe mehr gemalt und keine Männer dazu, die sie in den Himmel hinaufreichen? Die Verbesserung der Rechtspflege mag hierin allerdings nicht ohne Einfluß seyn, aber das gänzliche Verschwinden solcher Votivtafeln ist eine übertriebene Schmeichelei für die Gerichte; denn gibt es nicht auch jetzt noch allenthalben Rechtsspender so barsch und grob, daß der arme Bauer viel besser thut der lieben Jungfrau Maria in der Kirche mit einem Hundert Vaterunser beschwerlich zu fallen, als dem Herrn Actuar in der Kanzlei mit zehn Worten! Nur von einer ähnlichen Verlobung aus diesem Jahrhundert hab' ich noch gehört, nämlich von einem Bauern, der 1817 auf dem Schmuggel von den Gendarmen ertappt wurde, aber durch Anrufung der Mutter Gottes beim Gerichte

räthselhaft vor. Ist darin das Tagebuch des hebräischen Touristen, das der Vielgeprüpfte im Bauche des Haien zusammengestellt und das er nun sich freut der Oeffentlichkeit übergeben zu können – ist er also hier in derselben Lage, wie Camoens, als er schwimmend seine Lusiaden rettete? oder was hat die Depesche zu besagen? Immerhin scheint der Brief in der Symbolik der bäuerlichen Kirchenmaler seine tiefere Bedeutung zu haben. Auch in der Capelle unter der Westeck zu Riezlern sieht man auf einer Votivtafel einen Herrn aus dem vorigen Jahrhundert mit einem ehrwürdigen Haarbeutel und sorgenvollen Angesichte, der auf einem Betstuhle kniet und der heiligen Jungfrau Maria, die ober ihm in den Wolken schwebt, ein versiegeltes Schreiben hinaufreicht, und es scheint als strecke sie die Hand aus, um dasselbe gnädig entgegenzunehmen. Derlei Darstellungen findet man auch noch hie und da an andern Orten, aber sie sind alle aus älteren Zeiten, und in unsern Tagen scheint selbst die Tradition verloren zu seyn, was die gestorbenen Leute mit dem Briefe gewollt. Eine Aeußerung hörten wir zwar, die uns als verbürgte Erklärung mitgetheilt wurde, und die darauf hinausging, der Brief bedeute einen Proceß und die Insinuation desselben an die Himmelskönigin geschehe, um sie gewißermassen ad litem zu citiren. Diese Deutung mag, abgesehen von dem Briefe des Propheten Jonas in Gaschura, das Richtige seyn, aber warum werden jetzt keine solchen Briefe mehr gemalt und keine Männer dazu, die sie in den Himmel hinaufreichen? Die Verbesserung der Rechtspflege mag hierin allerdings nicht ohne Einfluß seyn, aber das gänzliche Verschwinden solcher Votivtafeln ist eine übertriebene Schmeichelei für die Gerichte; denn gibt es nicht auch jetzt noch allenthalben Rechtsspender so barsch und grob, daß der arme Bauer viel besser thut der lieben Jungfrau Maria in der Kirche mit einem Hundert Vaterunser beschwerlich zu fallen, als dem Herrn Actuar in der Kanzlei mit zehn Worten! Nur von einer ähnlichen Verlobung aus diesem Jahrhundert hab’ ich noch gehört, nämlich von einem Bauern, der 1817 auf dem Schmuggel von den Gendarmen ertappt wurde, aber durch Anrufung der Mutter Gottes beim Gerichte

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[121/0126] räthselhaft vor. Ist darin das Tagebuch des hebräischen Touristen, das der Vielgeprüpfte im Bauche des Haien zusammengestellt und das er nun sich freut der Oeffentlichkeit übergeben zu können – ist er also hier in derselben Lage, wie Camoens, als er schwimmend seine Lusiaden rettete? oder was hat die Depesche zu besagen? Immerhin scheint der Brief in der Symbolik der bäuerlichen Kirchenmaler seine tiefere Bedeutung zu haben. Auch in der Capelle unter der Westeck zu Riezlern sieht man auf einer Votivtafel einen Herrn aus dem vorigen Jahrhundert mit einem ehrwürdigen Haarbeutel und sorgenvollen Angesichte, der auf einem Betstuhle kniet und der heiligen Jungfrau Maria, die ober ihm in den Wolken schwebt, ein versiegeltes Schreiben hinaufreicht, und es scheint als strecke sie die Hand aus, um dasselbe gnädig entgegenzunehmen. Derlei Darstellungen findet man auch noch hie und da an andern Orten, aber sie sind alle aus älteren Zeiten, und in unsern Tagen scheint selbst die Tradition verloren zu seyn, was die gestorbenen Leute mit dem Briefe gewollt. Eine Aeußerung hörten wir zwar, die uns als verbürgte Erklärung mitgetheilt wurde, und die darauf hinausging, der Brief bedeute einen Proceß und die Insinuation desselben an die Himmelskönigin geschehe, um sie gewißermassen ad litem zu citiren. Diese Deutung mag, abgesehen von dem Briefe des Propheten Jonas in Gaschura, das Richtige seyn, aber warum werden jetzt keine solchen Briefe mehr gemalt und keine Männer dazu, die sie in den Himmel hinaufreichen? Die Verbesserung der Rechtspflege mag hierin allerdings nicht ohne Einfluß seyn, aber das gänzliche Verschwinden solcher Votivtafeln ist eine übertriebene Schmeichelei für die Gerichte; denn gibt es nicht auch jetzt noch allenthalben Rechtsspender so barsch und grob, daß der arme Bauer viel besser thut der lieben Jungfrau Maria in der Kirche mit einem Hundert Vaterunser beschwerlich zu fallen, als dem Herrn Actuar in der Kanzlei mit zehn Worten! Nur von einer ähnlichen Verlobung aus diesem Jahrhundert hab’ ich noch gehört, nämlich von einem Bauern, der 1817 auf dem Schmuggel von den Gendarmen ertappt wurde, aber durch Anrufung der Mutter Gottes beim Gerichte

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Zitationshilfe: Steub, Ludwig: Drei Sommer in Tirol. München, 1846, S. 121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steub_tirol_1846/126>, abgerufen am 23.11.2024.