am Araguay etwas Aehnliches gefunden. "Die Etikette verlangt, dass Jeder, von dem Andern abgewendet, für sich isst. Wer dagegen verstösst, muss sich den Spott der Uebrigen gefallen lassen."
Bei den Bakairi war diese Etikette nun entschieden strenger, sicher wenigstens im Verhältnis zu dem Gaste, denn der Humor ging ihnen völlig ab meiner Unanständigkeit gegenüber. Ich habe gewiss Vieles gethan, was des Landes nicht der Brauch war, ich habe laut gesungen, Männer und Frauen nach ihrem Namen gefragt, die delikaten Käferlarven zurückgewiesen und dergleichen schwer zu entschuldigende Dinge mehr begangen, allein nie sah ich, dass man sich schämte. Hier aber handelte es sich um mehr als etwas Unschickliches, ich war unanständig gewesen. Darüber kann gar kein Zweifel sein.
Wenn wir mit Heine zugeben müssen, dass wir alle nackt in unsern Kleidern stecken und unserm Schamgefühl nur eine relative Berechtigung zusprechen dürfen, wird auch der Bakairi durch Essen an und für sich, soweit der Einzelne den Vorgang für seine Person erledigt, in edleren Gefühlen nicht verletzt werden können. Unwillkürlich gedenkt man irgend eines Tieres, das seinen Anteil von der Mahlzeit beiseite trägt, doch offenbar aus Furcht, ein anderes möchte ihn wegnehmen. Wohl glaube ich, dass Fisch und Fleisch bei den Bakairi, die sich mit einer gewissen Trägheit auf Mandioka und Mais mehr einschränkten als ihnen selbst lieb war, verhältnismässig knapp bemessen waren: ich bin gewiss, wenn ich noch eine Woche länger dort geblieben wäre, hätte ich mich aus freien Stücken mit jedem guten Stück, das ich rechtmässig oder unrechtmässig erwischt hätte, in eine stille Ecke gesetzt, um es vor den Blicken der Andern geschützt zu verzehren. Den hungrigen Blick, fürchte ich, habe ich selbst schon damals nach Andern hinübergeworfen. Aber die Entstehung des beschriebenen Scham- gefühls muss in älteren Zeiten wurzeln.
Du lieber Himmel, wie haben wir sogenannten gebildeten Menschen, als Schmalhans auf der Expedition Küchenmeister wurde, ich kann nur sagen, obwohl wir die Gefühle zu meistern wussten, mit Gier und Neid die gegenseitigen Portionen kontrolliert; als der Zuckervorrat, die Rapadura, zusammenschrumpfte, war es nötig gewesen, den Rest persönlich zu verteilen, damit ein Jeder sich auf dem Lagerplatz seinen Erfrischungstrank nach Belieben sparsam oder ver- schwenderisch herrichten konnte, und als wir später auf der Fazenda S. Manoel nur ein wenig Rapadura vorfanden, die wir in genau gleiche Stücke zerschnitten, erhitzten wir uns in allem Ernst über der Entdeckung, dass die Soldaten, mit denen wir ehrlich geteilt, sich heimlich eine Anzahl der Bonbon-Ziegelsteine vorweg verschafft hatten.
Die Bakairi lebten wie eine einzige Familie, sie verteilten untereinander die Beute von Fischfang und Jagd auf die verschiedenen Häuser, in jedem Haus musste auf die verschiedenen Familien wieder verteilt werden. Die Zeit, wo sie gelernt hatten, Mandioka und Mais zu pflanzen, und sich nun einen regel- mässigen Vorrat an Lebensmitteln sichern konnten, war eine neue Aera. Bis
5*
am Araguay etwas Aehnliches gefunden. »Die Etikette verlangt, dass Jeder, von dem Andern abgewendet, für sich isst. Wer dagegen verstösst, muss sich den Spott der Uebrigen gefallen lassen.«
Bei den Bakaïrí war diese Etikette nun entschieden strenger, sicher wenigstens im Verhältnis zu dem Gaste, denn der Humor ging ihnen völlig ab meiner Unanständigkeit gegenüber. Ich habe gewiss Vieles gethan, was des Landes nicht der Brauch war, ich habe laut gesungen, Männer und Frauen nach ihrem Namen gefragt, die delikaten Käferlarven zurückgewiesen und dergleichen schwer zu entschuldigende Dinge mehr begangen, allein nie sah ich, dass man sich schämte. Hier aber handelte es sich um mehr als etwas Unschickliches, ich war unanständig gewesen. Darüber kann gar kein Zweifel sein.
Wenn wir mit Heine zugeben müssen, dass wir alle nackt in unsern Kleidern stecken und unserm Schamgefühl nur eine relative Berechtigung zusprechen dürfen, wird auch der Bakaïrí durch Essen an und für sich, soweit der Einzelne den Vorgang für seine Person erledigt, in edleren Gefühlen nicht verletzt werden können. Unwillkürlich gedenkt man irgend eines Tieres, das seinen Anteil von der Mahlzeit beiseite trägt, doch offenbar aus Furcht, ein anderes möchte ihn wegnehmen. Wohl glaube ich, dass Fisch und Fleisch bei den Bakaïrí, die sich mit einer gewissen Trägheit auf Mandioka und Mais mehr einschränkten als ihnen selbst lieb war, verhältnismässig knapp bemessen waren: ich bin gewiss, wenn ich noch eine Woche länger dort geblieben wäre, hätte ich mich aus freien Stücken mit jedem guten Stück, das ich rechtmässig oder unrechtmässig erwischt hätte, in eine stille Ecke gesetzt, um es vor den Blicken der Andern geschützt zu verzehren. Den hungrigen Blick, fürchte ich, habe ich selbst schon damals nach Andern hinübergeworfen. Aber die Entstehung des beschriebenen Scham- gefühls muss in älteren Zeiten wurzeln.
Du lieber Himmel, wie haben wir sogenannten gebildeten Menschen, als Schmalhans auf der Expedition Küchenmeister wurde, ich kann nur sagen, obwohl wir die Gefühle zu meistern wussten, mit Gier und Neid die gegenseitigen Portionen kontrolliert; als der Zuckervorrat, die Rapadura, zusammenschrumpfte, war es nötig gewesen, den Rest persönlich zu verteilen, damit ein Jeder sich auf dem Lagerplatz seinen Erfrischungstrank nach Belieben sparsam oder ver- schwenderisch herrichten konnte, und als wir später auf der Fazenda S. Manoel nur ein wenig Rapadura vorfanden, die wir in genau gleiche Stücke zerschnitten, erhitzten wir uns in allem Ernst über der Entdeckung, dass die Soldaten, mit denen wir ehrlich geteilt, sich heimlich eine Anzahl der Bonbon-Ziegelsteine vorweg verschafft hatten.
Die Bakaïrí lebten wie eine einzige Familie, sie verteilten untereinander die Beute von Fischfang und Jagd auf die verschiedenen Häuser, in jedem Haus musste auf die verschiedenen Familien wieder verteilt werden. Die Zeit, wo sie gelernt hatten, Mandioka und Mais zu pflanzen, und sich nun einen regel- mässigen Vorrat an Lebensmitteln sichern konnten, war eine neue Aera. Bis
5*
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0095"n="67"/>
am Araguay etwas Aehnliches gefunden. »Die Etikette verlangt, dass Jeder,<lb/>
von dem Andern abgewendet, für sich isst. Wer dagegen verstösst, muss sich<lb/>
den Spott der Uebrigen gefallen lassen.«</p><lb/><p>Bei den Bakaïrí war diese Etikette nun entschieden strenger, sicher<lb/>
wenigstens im Verhältnis zu dem Gaste, denn der Humor ging ihnen völlig ab<lb/>
meiner Unanständigkeit gegenüber. Ich habe gewiss Vieles gethan, was des<lb/>
Landes nicht der Brauch war, ich habe laut gesungen, Männer und Frauen nach<lb/>
ihrem Namen gefragt, die delikaten Käferlarven zurückgewiesen und dergleichen<lb/>
schwer zu entschuldigende Dinge mehr begangen, allein nie sah ich, dass man<lb/>
sich schämte. Hier aber handelte es sich um mehr als etwas Unschickliches, ich<lb/>
war unanständig gewesen. Darüber kann gar kein Zweifel sein.</p><lb/><p>Wenn wir mit Heine zugeben müssen, dass wir alle nackt in unsern Kleidern<lb/>
stecken und unserm Schamgefühl nur eine relative Berechtigung zusprechen<lb/>
dürfen, wird auch der Bakaïrí durch Essen an und für sich, soweit der Einzelne<lb/>
den Vorgang für seine Person erledigt, in edleren Gefühlen nicht verletzt werden<lb/>
können. Unwillkürlich gedenkt man irgend eines Tieres, das seinen Anteil von<lb/>
der Mahlzeit beiseite trägt, doch offenbar aus Furcht, ein anderes möchte ihn<lb/>
wegnehmen. Wohl glaube ich, dass Fisch und Fleisch bei den Bakaïrí, die sich<lb/>
mit einer gewissen Trägheit auf Mandioka und Mais mehr einschränkten als ihnen<lb/>
selbst lieb war, verhältnismässig knapp bemessen waren: ich bin gewiss, wenn<lb/>
ich noch eine Woche länger dort geblieben wäre, hätte ich mich aus freien<lb/>
Stücken mit jedem guten Stück, das ich rechtmässig oder unrechtmässig erwischt<lb/>
hätte, in eine stille Ecke gesetzt, um es vor den Blicken der Andern geschützt<lb/>
zu verzehren. Den hungrigen Blick, fürchte ich, habe ich selbst schon damals<lb/>
nach Andern hinübergeworfen. Aber die Entstehung des beschriebenen Scham-<lb/>
gefühls muss in älteren Zeiten wurzeln.</p><lb/><p>Du lieber Himmel, wie haben wir sogenannten gebildeten Menschen, als<lb/>
Schmalhans auf der Expedition Küchenmeister wurde, ich kann nur sagen, obwohl<lb/>
wir die Gefühle zu meistern wussten, mit Gier und Neid die gegenseitigen<lb/>
Portionen kontrolliert; als der Zuckervorrat, die Rapadura, zusammenschrumpfte,<lb/>
war es nötig gewesen, den Rest persönlich zu verteilen, damit ein Jeder sich auf<lb/>
dem Lagerplatz seinen Erfrischungstrank nach Belieben sparsam oder ver-<lb/>
schwenderisch herrichten konnte, und als wir später auf der Fazenda S. Manoel<lb/>
nur ein wenig Rapadura vorfanden, die wir in genau gleiche Stücke zerschnitten,<lb/>
erhitzten wir uns in allem Ernst über der Entdeckung, dass die Soldaten, mit<lb/>
denen wir ehrlich geteilt, sich heimlich eine Anzahl der Bonbon-Ziegelsteine vorweg<lb/>
verschafft hatten.</p><lb/><p>Die Bakaïrí lebten wie eine einzige Familie, sie verteilten untereinander die<lb/>
Beute von Fischfang und Jagd auf die verschiedenen Häuser, in jedem Haus<lb/>
musste auf die verschiedenen Familien wieder verteilt werden. Die Zeit, wo sie<lb/>
gelernt hatten, Mandioka und Mais zu pflanzen, und sich nun einen regel-<lb/>
mässigen Vorrat an Lebensmitteln sichern konnten, war eine neue Aera. Bis<lb/><fwplace="bottom"type="sig">5*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[67/0095]
am Araguay etwas Aehnliches gefunden. »Die Etikette verlangt, dass Jeder,
von dem Andern abgewendet, für sich isst. Wer dagegen verstösst, muss sich
den Spott der Uebrigen gefallen lassen.«
Bei den Bakaïrí war diese Etikette nun entschieden strenger, sicher
wenigstens im Verhältnis zu dem Gaste, denn der Humor ging ihnen völlig ab
meiner Unanständigkeit gegenüber. Ich habe gewiss Vieles gethan, was des
Landes nicht der Brauch war, ich habe laut gesungen, Männer und Frauen nach
ihrem Namen gefragt, die delikaten Käferlarven zurückgewiesen und dergleichen
schwer zu entschuldigende Dinge mehr begangen, allein nie sah ich, dass man
sich schämte. Hier aber handelte es sich um mehr als etwas Unschickliches, ich
war unanständig gewesen. Darüber kann gar kein Zweifel sein.
Wenn wir mit Heine zugeben müssen, dass wir alle nackt in unsern Kleidern
stecken und unserm Schamgefühl nur eine relative Berechtigung zusprechen
dürfen, wird auch der Bakaïrí durch Essen an und für sich, soweit der Einzelne
den Vorgang für seine Person erledigt, in edleren Gefühlen nicht verletzt werden
können. Unwillkürlich gedenkt man irgend eines Tieres, das seinen Anteil von
der Mahlzeit beiseite trägt, doch offenbar aus Furcht, ein anderes möchte ihn
wegnehmen. Wohl glaube ich, dass Fisch und Fleisch bei den Bakaïrí, die sich
mit einer gewissen Trägheit auf Mandioka und Mais mehr einschränkten als ihnen
selbst lieb war, verhältnismässig knapp bemessen waren: ich bin gewiss, wenn
ich noch eine Woche länger dort geblieben wäre, hätte ich mich aus freien
Stücken mit jedem guten Stück, das ich rechtmässig oder unrechtmässig erwischt
hätte, in eine stille Ecke gesetzt, um es vor den Blicken der Andern geschützt
zu verzehren. Den hungrigen Blick, fürchte ich, habe ich selbst schon damals
nach Andern hinübergeworfen. Aber die Entstehung des beschriebenen Scham-
gefühls muss in älteren Zeiten wurzeln.
Du lieber Himmel, wie haben wir sogenannten gebildeten Menschen, als
Schmalhans auf der Expedition Küchenmeister wurde, ich kann nur sagen, obwohl
wir die Gefühle zu meistern wussten, mit Gier und Neid die gegenseitigen
Portionen kontrolliert; als der Zuckervorrat, die Rapadura, zusammenschrumpfte,
war es nötig gewesen, den Rest persönlich zu verteilen, damit ein Jeder sich auf
dem Lagerplatz seinen Erfrischungstrank nach Belieben sparsam oder ver-
schwenderisch herrichten konnte, und als wir später auf der Fazenda S. Manoel
nur ein wenig Rapadura vorfanden, die wir in genau gleiche Stücke zerschnitten,
erhitzten wir uns in allem Ernst über der Entdeckung, dass die Soldaten, mit
denen wir ehrlich geteilt, sich heimlich eine Anzahl der Bonbon-Ziegelsteine vorweg
verschafft hatten.
Die Bakaïrí lebten wie eine einzige Familie, sie verteilten untereinander die
Beute von Fischfang und Jagd auf die verschiedenen Häuser, in jedem Haus
musste auf die verschiedenen Familien wieder verteilt werden. Die Zeit, wo sie
gelernt hatten, Mandioka und Mais zu pflanzen, und sich nun einen regel-
mässigen Vorrat an Lebensmitteln sichern konnten, war eine neue Aera. Bis
5*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 67. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/95>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.